23.02
2025
08:40
Uhr

Das Echo der Zeitenwende

3 Jahre nach dem Angriff auf die Ukraine

Ein Beitrag von Daniel Vorpahl

Autor* 
Vor drei Jahren eskalierte der langjährige Konflikt um eines der größten Länder Europas. Begonnen hatte er bereits 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Am 24. Februar 2022 ließ Russlands Präsident Putin dann die Ukraine überfallen. Zum ersten Mal seit 1945 kam es in Europa wieder zu einem Angriffskrieg. Millionen von Menschen mussten aus der Ukraine fliehen, zunächst in der Hoffnung, nach ein paar Monaten in ihre Heimat zurückkehren zu können. Aus dieser Hoffnung sind mittlerweile drei Jahre Krieg geworden.
Die Evangelische Kirche in Deutschland verurteilt den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine und zeigt sich solidarisch mit dessen Opfern. Auch im dritten Jahr des Krieges ist sie bundesweit an Aktionen beteiligt, die für Frieden eintreten. Darüber hinaus unterstützen Mitglieder der Kirche von der ersten Stunde an die Notleidenden in der Ukraine, aber auch diejenigen, die nach Deutschland geflohen sind. Wie aus der spontanen Hilfe zu Kriegsbeginn eine nachhaltige Unterstützung Geflüchteter wurde, was Menschen, die aus der Ukraine kamen damals brauchten und vor welchen Herausforderungen sie heute stehen, darüber sprach ich mit Viktor Weber. Er ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Staaken und erlebte die Ersthilfe ukrainischer Geflüchteter als ein ganz natürliches menschliches Handeln.

Viktor Weber 
Den ersten Kontakt hatte ich, als damals viele Menschen kamen, als der Krieg noch ausbrach. Und das war fast schon eine weihnachtliche Geschichte: Da war eine junge Frau, ein junges Pärchen. Die Frau war hochschwanger, suchte dringend nach einem Dach über dem Kopf. Und im Prinzip war das für mich ganz natürlich als Kirchenmensch, als Gläubiger, als Pfarrer mich da in diesen Netzwerken zu bewegen. Und wir hatten dann gerade ein Gästezimmer frei und es ist dazu gekommen, dass diese junge Familie bei uns eingezogen ist. Und gleich am Tag drauf habe ich die Dame dann ins Krankenhaus gefahren. Und dort war dann die Entbindung und alles drum und dran. Also, das war schon eine sehr intensive erste Begegnung, wo ich durchaus das Gefühl hatte, da auch etwas Gutes zu tun und Menschen konkret zu helfen.

Autor*
An solch spontane Ersthilfe für Geflüchtete, die Viktor Weber als intuitive Mitmenschlichkeit erlebt hat, erinnert sich auch Marina Mykolaeienko, die im März 2022 mit ihrem Kind aus der Ukraine fliehen musste und zuerst auf einem Bahnhof in Berlin ankam. Dass in Deutschland Menschen spontan Geflüchtete bei sich zuhause aufnehmen, hat sie sehr berührt und überrascht.

Marina Mykolaeienko 
Ich weiß, wie groß schätzen die Deutschen eigene Platz und eigene Atmosphäre. Und für Deutsche das ist ganz schwer, andere Leute in seine Leben reinzukommen lassen. Deswegen – wenn wir erinnern, diese Situationen, wenn diese Familien Deutsche stehen auf dem Bahnhof und nehmen die ukrainische Mutter mit Kindern zu ihnen nach Hause. Das kann man nur mit Tränen – solches mit so viel bedankenden Tränen nur das erinnern. – Also alle ukrainischen Menschen, glaube ich, sehr schätzen alle Unterstützung, die sie schon in Deutschland bekommen haben. Dieses System, soziales System besonders, das funktioniert super. Ja, es ist gibt die bürokratischen Momente, denkt man – muss viele Papiere einfüllen und viel mehr Zeit warten und Geduld haben. Aber, sowieso, das ist eine große Unterstützung, besonders von die deutschen Leute, die von Anfang an alle Familien in seine Familien mitgebracht und erste Monate oder erste Jahr diese Möglichkeit zu haben, irgendwo zu wohnen. 

MUSIK: Smith & Burrows Wonderful Life  

Autor* 
Schutz, ein sicheres Dach über dem Kopf. Das war das Erste, was Menschen brauchten als sie aus der Ukraine fliehen mussten. In den folgenden Wochen und Monaten halfen Initiativen und Einzelpersonen, auch solche der evangelischen Kirche, vielfältig dabei, Geflüchtete mit Nahrung und anderen Dingen des täglichen Lebens zu versorgen – sie bei der Suche nach Wohnraum zu unterstützen oder im Umgang mit Behörden zu beraten. Und nicht zu vergessen, gehörte auch Seelsorge zu dem Wichtigsten, was die zumeist traumatisierten Menschen brauchten. Sowohl Bedürfnisse als auch Möglichkeiten der Unterstützung haben sich im Laufe der letzten drei Jahre aber durchaus verändert. Darüber sowie über die Grenzen kirchlicher Unterstützungsangebote sprach ich mit Pfarrer Viktor Weber.

Viktor Weber 
Wir haben hier Berührungspunkte über die Ausgabestelle von Laib und Seele. Da kommen ganz regelmäßig Ukrainerinnen und Ukrainer, von den rund zweihundert Haushalten, die hier versorgt werden, inzwischen ein Drittel. Anfragen, in der Art dass jemand Wohnraum braucht, haben mich schon länger nicht mehr erreicht. Die Themen, die ich jetzt wahrnehme, sind häufig beruflicher Natur. Also: Wie kriege ich meinen Sprachkurs gut abgeschlossen? Wie lerne ich die Sprache schnell? Ich hatte Anfragen, ob ich jemanden unterstützen kann bei der Verfassung von Bewerbungen. Das scheinen mehr so die Themen zu sein. Wahrscheinlich auch mit dem Hintergrund, dass man länger bleibt. Und viele, die eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, die wollen ja auch aktiv sein, die wollen ja sozusagen dem Land was zurückgeben. Und das kann, glaube ich, nur in unserem Interesse sein, wenn wir die Menschen da unterstützen.
Außerdem taucht immer mal wieder in unseren Gottesdiensten jemand auf – erstaunlich selten, würde ich sagen – und sucht Kontakt, möchte sich mal aussprechen. Letzens hat jemand negative Erfahrungen mit der orthodoxen Kirche hier gemacht, weil er erlebt hat, dass die russisch-orthodoxe Kirche die russischen Narrative hochhält und weiterverbreitet, die eben in Russland zur Staatspropaganda gehören: dass dieser Krieg halt dann doch berechtigt sei usw. Das ist natürlich eine Befremdungserfahrung. Und die versuchen dann hier nochmal Fuß zu fassen. Die sind ja hauptsächlich orthodox, also ukrainisch-orthodox oder russisch-orthodox. Deswegen ist der Schritt in die evangelische Kirche oder zur evangelischen Kirche eher mit Vorbehalten verbunden.

Autor* 
Der Umgang mit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch innerhalb der Evangelischen Kirche zu heftigen Kontroversen geführt, allem voran in der Frage um die Befürwortung oder Ablehnung von Waffenlieferungen. Auf die Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine hat diese Debatte laut Pfarrer Viktor Weber jedoch keinen Einfluss.

Viktor Weber 
Die Situation, dass jemand nach Hilfe ruft, erfordert ja nach einer Antwort, sozusagen: Wollen wir helfen und wenn ja, in welcher Form? Und wissen wir sozusagen besser als die Menschen vor Ort, welche Hilfe sie brauchen als die Menschen selbst. Und da wird’s auf einmal klar, dass die Sachen hochkomplex sind und dass man da nicht mit Ja und Nein irgendwie weiterkommen kann. Das haben wir auch in der Politik gesehen, dass da überraschende Positionen auf einmal eingenommen wurden. Es gibt natürlich in der Kirche starke Befürworter einer sehr radikalen Friedensethik, genauso wie Menschen die stärker realpolitisch orientiert sind. Ich denke, da bildet sich auch ein bisschen die gesamtgesellschaftliche Diskussion und Debatte ab. Einfluss auf die Hilfe für die konkreten Menschen hat das meines Erachtens gar keine, denn da spielen solche Fragen keine Rolle. Das eine, scheint mir, ist eine ganz grundsätzliche Debatte. Und das andere ist ja die Frage, wie helfe ich jetzt meinem Nächsten?

MUSIK: Phoebe Bridgers Chinese Satellite 

Autor* 
In den vergangenen drei Jahren konnten aus Initiativen der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg einige langfristige Kontakte und Kooperationen mit Menschen aufgebaut werden, die aus der Ukraine geflohenen sind. Viele kirchliche Angebote laufen aber auch ins Leere, berichtet Pfarrer Viktor Weber von der Gemeinde Staaken. Neben konfessionellen Unterschieden liegt dies auch an Sprachbarrieren, sagt Weber, der selbst immerhin fließend Russisch spricht. Eine sprachliche Heimat fernab des eigenen Zuhauses, die Möglichkeit, sich in eigenen Worten auszudrücken – auch das ist eine wichtige Stütze bei der Verarbeitung von Kriegs- und Fluchterfahrungen. Davon erzählte mir auch Marina Mykolaeienko, die 2022 aus der Ukraine fliehen musste und mittlerweile in Potsdam lebt.

Marina Mykolaeienko
Ich finde das ein großes Wert, wenn man kann in seiner eigenen Sprache mit anderen reden und Hilfe von anderen bekommen. Du kommst her und hast gar nichts und musst alles finden, (dich) um alles kümmern und das von Anfang an, muss man machen. Ja, das war ganz schwer. Und alle Familien haben seine eigene Situation und jede Situation ist anders. Aber wenn man sieht ein gutes Beispiel, dass man kann etwas schon erreichen, dann man hat auch dieses Gefühl, dass es erreichbar ist und alles nicht so schlimm als das (es) zuerst aussieht. Und wenn man etwas möchte, dann man geht zu diesem Ziel und alles ist möglich.

Autor*  
Marina Mykolaeienko hat in der Ukraine Germanistik studiert und anschließend im schulischen Kontext mit Kindern gearbeitet. In Deutschland unterstützte sie zunächst ukrainische Kinder in Willkommensklassen und arbeitet mittlerweile in einem Hort. Als sie im März 2022 nach Deutschland floh hatte auch sie nicht damit gerechnet, drei Jahre später noch immer nicht in ihre Heimat zurückkehren zu können. Ich sprach daher mit ihr darüber, wie sich ihr Leben und ihre Perspektive verändert haben. Wie war es für sie, sich in den letzten drei Jahre in einem fremden Land ganz von vorn einen neuen Lebensalltag aufzubauen, während im eigenen Land ein verheerender Krieg wütet?

Marina Mykolaeienko 
Die Erste, das war Schutz. Und für Kind das war wichtig in solches ruhige Situation zu bleiben und nicht immer solche Gedanken haben: Was kann nächstes Mal kommen? Also das war die Wichtigste zuerst – Sicherheit zu bekommen. Und alle anderen Probleme – das war gar nichts, die Probleme in unserer Situation. Weil wir Verständnis haben, dass nicht alles kann man direkt haben und man muss also viel mehr Zeit brauchen, um alle anderen Probleme zu lösen. 
Also alle hoffen, dass das geht ganz schnell und alles wird in Ordnung und alle können nach Hause gehen. Aber die Kinder, die schon Erwachsene sind, also Jugendliche, meine ich – natürlich diese Eltern müssen kümmern mehr. Weil, sie haben auch Angst, dass in ein paar Jahren müssen besonders Jungen auch in Armee gehen. Und natürlich, solche Eltern hatten viel mehr Angst. Aber man muss hier auch Möglichkeiten finden, zu leben, zu wohnen und das war eine große Unterstützung in Deutschland besonders.

Autor*  
Für Menschen, die wie Marina Mykolaeienko aus der Ukraine fliehen mussten, ist es nicht zumutbar, auf Dauer ihr Leben im Zustand des Wartens zu verbringen. Erstrecht nicht für Kinder, die sich enorm schnell weiterentwickeln. Ab irgendeinem Punkt bedeutet für sie die Rückkehr ins Heimatland – sofern sie denn überhaupt möglich ist – auch, ein weiteres Mal von vorn anzufangen. Für viele Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten, gibt es aber auch gar keinen Ort, an den sie zurückkehren können, da er schlichtweg nicht mehr existiert. Auch wenn viele aus Glaubensgründen keine neue Heimat in der evangelischen Kirche finden, so ist doch die von Pfarrer Viktor Weber angesprochene Nächstenliebe eine verlässliche Grundlage dafür, dass sie von dort weiterhin Unterstützung und Hilfe erwarten dürfen.

MUSIK: Tocotronic Nie wieder Krieg