Autorin
Ein klitzekleines Dorf in Tirol. Es gibt eine Kirche, einen Brunnen; Menschen grüßen einander, und der Lech rauscht wie eine Lebensader durch das Tal. Steeg ist ein Ort mit 250 Einwohnern, eingebettet in die Alpenlandschaft und Teil des Naturparks Tiroler Lech.
Mein Name ist Thekla Schönfeld und ich gehöre zum Orden der Missionsärztlichen Schwestern. Eigentlich lebe ich in Berlin, und der Ort Steeg, in dem ich gerade bin, ist ein ziemliches Kontrastprogramm. Ich wäre nicht hier, wenn nicht vor 100 Jahren eine junge Frau aus diesem Dorf die Vision gehabt hätte, in die Welt hinauszugehen und kranken Menschen in Not zu helfen. Ihr Name ist Anna Dengel.
O-Ton Anna Dengel
Wenn du wirklich liebst, bist du erfinderisch,
wenn du liebst, versuchst du zu entdecken, bist du interessiert.
Wenn du wirklich liebst, bist du geduldig und langmütig.
Wenn du liebst, willst du wirklich dienen und nicht nur arbeiten.
Man schont sich selbst nicht, wenn man liebt.
Autorin
Anna Dengel hat uns alle hier zusammengeführt. Mit mir zusammen sind Frauen aus vielen Teilen der Erde hier: aus Asien, Europa, Afrika und dem amerikanischen Kontinent. Sie alle sind meine Schwestern, sie gehören zur gleichen Gemeinschaft wie ich. Wir sind Ordensfrauen. Obwohl niemand das vielleicht auf den ersten Blick ahnt: Denn wir tragen keine einheitliche Ordenstracht. Jede trägt das, was in ihrer Kultur üblich ist. Ich Jeans und T-Shirt, Jyoti aus Nord-Indien trägt heute zum Fest einen Sari, Carmen aus Venezuela hat eine bunt bestickte Bluse an und Rosemary aus Kenia ein Kleid aus traditionell bedruckten Stoffen.
Autorin:
Wir feiern zusammen mit den Menschen in Steeg das 100. Jubiläum der Missionsärztlichen Schwestern, einer weltweiten katholischen Ordensgemeinschaft, die heute mit ca. 600 Mitgliedern auf fünf Kontinenten vertreten ist. Wir alle wollen „heilend präsent sein am Herzen einer verwundeten Welt“, so steht es in unseren Dokumenten. Aber was heißt das eigentlich, „heilend präsent sein“? Für mich bedeutet es, Menschen auf ihrer Suche nach Sinn und Orientierung zuzuhören, sie ein Stück ihres Weges zu begleiten und gemeinsam mit ihnen zu erkunden, wo sich neue Möglichkeiten für ein erfülltes Leben zeigen. Anna Dengel, unsere Ordensgründerin, erklärt es so:
O-Ton Anna Dengel 2
Die Nöte der Menschen müssen ein Echo in unseren Herzen finden.
Nicht aller Anfang ist leicht, aber das Unmögliche von heute ist die Arbeit von morgen.
Autorin:
Jyoti aus Indien, die in London lebt, buchstabiert unseren Auftrag anders aus. Sie hilft wohnungslosen Menschen in einem Tageszentrum, wo sie duschen und ihre Wäsche waschen können und Hilfe in Gesundheitsfragen bekommen. Und Rosemary in Kenia setzt sich für die Rechte von Mädchen und Frauen ein, die in traditionell dörflichen Strukturen oft unterdrückt werden. In 20 Ländern unserer Welt engagieren wir uns zusammen mit vielen anderen für inklusive Gesundheit, für Gerechtigkeit und Frieden und in der Sorge um unsere Erde.
Autorin:
Die Missionsärztlichen Schwestern sind eine weltweite Ordensgemeinschaft. Sie feiern in diesem Jahr ihr Jubiläum. Wie kommt es, dass sich seit 100 Jahren Ordensfrauen aus so vielen verschiedenen Kulturen für kranke Menschen und Gerechtigkeit auf der Welt einsetzen? Angefangen hat alles im Jahr 1892 in diesem Tiroler Dorf Steeg. Hier wurde Anna Dengel geboren, die Gründerin der Gemeinschaft.
Anna wächst mit ihren Eltern und Geschwistern in Tirol auf und ist ihrer Heimat eng verbunden. Doch alles verändert sich, als Anna mit neun Jahren ihre Mutter verliert. Dieses Ereignis schlägt eine Wunde, die sie ihr Leben lang begleiten soll. Sie sagt selbst:
O-Ton 3 Anna Dengel
Der Schmerz, den dieser Verlust verursachte, war so groß, dass ich ihn niemals vergessen konnte. Ihm schreibe ich auch mein besonderes Mitleid mit Müttern und Kindern zu.
Autorin:
Anna ist eine gute Schülerin, sie lernt verschiedene Sprachen. Auf einer Reise nach Frankreich fällt ihr zufällig ein Info-Blatt in die Hände, das Frauen für die Krankenpflege in Indien anwirbt. Sofort ist sie „Feuer und Flamme“ für diese Idee. Sie nimmt Kontakt zur Ärztin Agnes McLaren auf, die ihr Unterstützung für ein Medizinstudium verspricht. Es ist ein großes Wagnis: Aus dem kleinen Dorf in den Alpen führt ihr Weg sie in eine ganz neue unbekannte Welt.
Schwester Rowena Miranda kommt aus Indien und ist Teil des internationalen Leitungsteams unserer Gemeinschaft. Ihre Faszination für Anna Dengel beschreibt sie so:
O-Ton Sr. Rowena
For me, mother, Anna Dengel had a vision greater than herself. Because from a small village, you're surrounded by high mountains and trees. I have a sense that she sensed that there is a bigger reality beyond this small little village or, the place she is so confined to. And that gave her, the daring spirit to go beyond this small little village into the global world.
Voice Over:
Für mich hatte Anna Dengel eine Vision, die größer war als sie selbst. Denn aus einem kleinen Dorf kommend, umgeben von hohen Bergen und Bäumen, glaube ich, dass sie spürte, dass es eine größere Wirklichkeit gibt jenseits dieses kleinen Dorfes und des Ortes, an den sie so gebunden war. Und das gab ihr den Mut zum Wagnis, aus diesem kleinen Dorf heraus in die große Welt zu gehen.
Autorin:
Anna ist begeistert von der Idee, kranken Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel zu helfen. So bricht sie 1914 erst nach Irland auf, um als eine der ersten Frauen Medizin zu studieren. Trotz der Wirren des Ersten Weltkriegs schließt sie ihr Studium mit dem Doktortitel ab und reist 1920 nach Indien. Ein Traum wird für sie wahr. Voller Enthusiasmus beginnt Anna ihre Arbeit als Ärztin in Rawalpindi, einem Teil Indiens, der heute zu Pakistan gehört.
O Ton 4 Anna Dengel mit Sitar-Atmo
Ich war sofort Feuer und Flamme. Es war die Antwort auf meine unbewusste Sehnsucht und Hoffnung, die ich seit meiner Kindheit in mir trug, eine Missionarin mit einem bestimmten Ziel zu sein, eine Lücke zu füllen, die nur Frauen füllen können.
Autorin:
Besonders berührt sie die große Not der Frauen, die medizinisch nicht versorgt sind. Denn ihr muslimischer Glaube verbietet es ihnen, sich von männlichen Ärzten behandeln zu lassen. Und so sterben viele Frauen an Krankheiten oder bei der Geburt eines Kindes. Als Ärztin kann Anna helfen, ihre Not zu lindern. Sie fühlt sich den Frauen innerlich verbunden durch den eigenen Schmerz, selbst früh ihre Mutter verloren zu haben.
O-Ton 5 Anna Dengel:
Die Macht der Frauen ist größer, als sie es selbst für möglich halten.
Autorin:
Ihr Leben lang hat sich Anna Dengel besonders für Frauen und Kinder in Not eingesetzt. Macht sie das zur Feministin? Ich frage Schwester Michaela Bank aus Berlin, die unsere Gründerin noch persönlich gekannt hat.
O-Ton Sr. Michaela
Sie hat sozusagen dieses Wort Feminismus oder so nicht gebraucht, aber sie war eine durch und durch, und es ging ihr auch darum, Frauen Wege zu zeigen, dass sie wirklich an ihr, an ihren Selbstwert geglaubt haben und das auch gelebt haben. Also sozusagen raus aus dieser Ecke, wohin sie dann oft ja gedrückt wurden und den Platz in der Gesellschaft einzunehmen, der ihnen zustand.
Autorin:
Anna Dengels Lebensgeschichte ist eine besondere und bewegte: Auch ihr bleiben Krisen nicht erspart. In Indien arbeitet sie als Ärztin in einem Krankenhaus – bis zur völligen Erschöpfung. Sie fragt sich, wie ihr Weg weitergehen soll. Was ist ihre Berufung? Ist es ein spiritueller Weg, ein Leben als Ordensfrau? Dann müsste sie die Medizin aufgeben, denn das Kirchenrecht verbietet Ordensfrauen zu dieser Zeit noch, als Ärztin tätig zu sein. Und andererseits weiß sie, wie dringend weibliche Ärztinnen in Indien gebraucht werden. Anna ringt mit sich und fragt einen Priester um Rat. Schließlich entscheidet sie: Sie will eine eigene Gemeinschaft gründen.
O-Ton 6 Anna Dengel
Obschon ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie, wann und wo ich das tun könnte, war ich für alles bereit. Eine schwere Last fiel mir durch diese Entscheidung vom Herzen, denn sie traf wie ein Schuss die Zielscheibe und war in voller Übereinstimmung mit meiner eigenen innersten Überzeugung. Ich war bereit.
Autorin:
Anna Dengel weiß: Es wird nicht leicht. Das kirchenrechtliche Verbot scheint unverrückbar, aber beharrlich arbeiten Anna und ihre Mitstreiterinnen daraufhin, dies zu ändern. Im September 1925 gründet Anna Dengel mit einer weiteren Ärztin und zwei Krankenschwestern die Medical Mission Sisters, die Missionsärztlichen Schwestern. Woher hatte Anna die Kraft, sich gegen die kirchlichen Konventionen zu stellen und das Wagnis dieser Gründung einzugehen? Schwester Michaela Bank aus Berlin:
O-Ton Sr. Michaela
… in meiner Sprache würde ich jetzt sagen, das konnte nur die göttliche Geistkraft sein, die diese Frau bewegt hat, Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Und als ich ihr dann selbst begegnet bin, da war ich noch mal tief beeindruckt über die Einfachheit und die Schlichtheit dieser Frau und auch ihre Heimatverbundenheit. Sie war Tirolerin bis in die Spitze ihres Herzens und ist das auch geblieben.
Und dabei hatte sie dann diese weltweite Vision, dass Frauen in alle Erdteile gehen, um die heilende Liebe Gottes zu verkünden.
Autorin:
Von der „göttlichen Geistkraft bewegt“ - damit meint sie Anna Dengels tiefe Verbundenheit zu ihrem christlichen Glauben, dem Glauben daran, dass es eine größere Wirklichkeit gibt, die unser Leben hält. Für sie ist das Gott. Ihrer Idee schließen sich schnell weitere Frauen an. Die Schwestern werden fundiert ausgebildet und dann in ländliche Gebiete in Afrika und Asien gesendet, um dort Krankenhäuser und Gesundheitsstationen zu gründen. Darüber hinaus hat Anna Dengel den festen Glauben, dass der Dienst am Menschen auch ein Dienst für Gott ist. Gottes heilende Liebe zu leben, indem sie kranken Menschen beisteht und hilft, ist für sie auch ein „Gottesdienst“.
Autorin:
Die Missionsärztlichen Schwestern gibt es seit 100 Jahren. Dieses Jubiläum feiere ich gemeinsam mit meinen Mitschwestern in diesem Jahr, auch in Berlin. Vor 33 Jahren zogen die ersten beiden Schwestern nach Marzahn-Hellersdorf. Mittlerweile sind bei uns zehn Frauen in verschiedenen Berufsfeldern aktiv.
Doch ist das Ordensleben nicht überholt? Heute muss keine Frau mehr in einen Orden eintreten, um ins Ausland zu gehen und sich in der Welt zu engagieren. Ist die Vision der Ordensgründerin Anna Dengel noch zeitgemäß? Meine Antwort: Ja – und das sage ich nicht nur, weil ich eine Missionsärztliche Schwester bin. Menschen brauchen andere Menschen, die ihnen in Krisensituationen beistehen, die für sie da sind, egal ob es eine Krankheit oder eine seelische Not ist, ob ihr Lebensraum bedroht ist oder ihre Rechte unterdrückt werden. Das Bild von Not und Armut in der Welt hat sich im vergangenen Jahrhundert verändert. Aber der Bedarf ist weiterhin groß. Anna Dengel sagte selbst:
O-Ton 7 Anna Dengel
Wir müssen uns den Nöten anpassen, die Nöte werden sich nicht uns anpassen. Wir dürfen uns niemals scheuen, uns zu ändern, wenn es nötig ist.
Autorin:
Unsere Gemeinschaft, die Missionsärztlichen Schwestern, suchen auch heute, 100 Jahre nach unserer Gründung, weiter nach Antworten auf die Nöte der Zeit. Antworten, die wir ganz konkret leben, jeden Tag - mit den Menschen in unseren Arbeitsfeldern, an den Orten, an denen wir leben, im persönlichen Einsatz, oft über die eigene Komfortzone hinaus. Kraft dazu gibt uns der Glaube an Gott, das Gebet und unser Leben in Gemeinschaft. Meine Mitschwester Rowena aus Indien drückt es so aus:
O-Ton Sr. Rowena Miranda
The message for us and for the future is again: Dare to go beyond your own limitations, your own boundaries. There is a greater good. There is “the more”. And to respond to that, to the more of the world reality and to make the world maybe a better place to live in.
Voice Over:
Ich denke, Anna Dengels Botschaft für uns und für die Zukunft wäre: „Wagt es, über eure Begrenzungen und eure Grenzen hinauszugehen. Es gibt etwas Größeres, ein „Mehr“. Antwortet auf dieses „Mehr an Wirklichkeit“ und macht die Welt zu einem besseren Lebensort für alle.“