Botschaft der Glocken
VON GUNNAR LAMMERT-TÜRK
1. Glocken-Ton: aus: Eine Reise durch Glockeneuropa: track 6, 3, 22, 73
Dom San Marco, Venedig / Esztergom / Rostow / Köln
Autor 1:
Der Glockenklang Europas. Aus Venedig, Esztergom in Ungarn, Rostow in Russland und aus Köln
sind hier Glocken zu hören. Sie läuteten auch andernorts seit dem Mittelalter. So weit verbreitet waren sie und so prägend für das Leben der Menschen, dass manchmal auch vom „Glocken-Europa“ die Rede ist. Noch heute sind sie in ganz Europa zu hören, nicht nur in den großen Städten und in den Stadtkirchen, auch auf dem Land. So wie damals. Unter anderem in den Brandenburger Dorfkirchen. Viele Kirchenglocken haben Namen und sind am Rand verziert. In Manker in der Prignitz tragen sie darüber hinaus eine besondere Zeichnung, wie die deutschamerikanische Historikerin Cornelia Oefelein entdeckt hat:
1. O-Ton: Cornelia Oefelein: wav 1289
(0’31’’ - 1’02’’) Da sieht man zwei Figuren auf einem Pferd reiten und dargestellt werden der Heilige Matthias und der Heilige Maternus aus Trier. Das Pilgerzeichen stammt aus dem Mathiaskloster in Trier und das sind die Heiligen, die dort in der Kirche auch begraben sind. Der Maternus war der erste Bischof von Trier. (1’25’’ - 1’38’’) Der Matthias ist der Apostel. Sein Grab wurde in dieser Kirche wieder aufgefunden und deshalb die Reliquien dort.
Autor 2:
Pilgerzeichen wie das in Manker sind auf manchen Glocken in Brandenburger Kirchen zu sehen. Es gibt solche aus Orten im Süden und Westen Deutschlands, aus dem Elsaß, aus Belgien und Frankreich. Soweit waren Brandenburger Pilger damals unterwegs. Vorort konnten sie die Pilgerzeichen in unterschiedlichen Größen und Ausführungen kaufen und befestigten sie oft am Mantel oder am Pilgerhut. Wie aber gelangten sie auf die Glocken, so dass diese von den weiten Pilgerreisen mancher Brandenburger im späten Mittelalter erzählen können? Cornelia Oefelein:
2. O-Ton: Cornelia Oefelein: wav 1131 (1’41’’ - 2’07’’)
Häufig ist das jetzt gerade in der Brandenburger Region eine Spezialität oder eine spezielle regionale Tradition, Pilgerzeichen in Glocken mit eingießen zu lassen als …sehr besonderen Glockenschmuck. Und man nimmt an, … dass damit das Heil der Reliquie mit auf die Glocke übertragen wurde.
Autor 3:
Denn mit den Pilgerzeichen hatten die Menschen an den von ihnen aufgesuchten heiligen Stätten die verehrten Reliquien berührt. Der so aufgenommene Segen kam beim Gießen einer neuen Glocke der jeweiligen Heimatgemeinde zugute, wurde mit ihrem Klang sozusagen verbreitet. Dahinter steckt die sehr alte Vorstellung, dass Glocken Böses abwehren und Harmonie zwischen der Welt der Menschen und dem Kosmos herstellen können. So sahen es bereits die Chinesen, die zuerst Glocken hatten, vor etwa 3500 Jahren. Für diese Wirkung sollte der Klang der Glocken wohltönend sein, so wie bei der Glocke Emmanuel der Pariser Kathedrale Notre Dame, die hier zu hören ist:
2. Glocken-Ton: aus: Eine Reise durch Glockeneuropa: track 47
Glocke Emmanuel, Notre Dame de Paris
Autor 4:
Glocken dienten früher vielen Zwecken: Sie riefen zu Versammlungen, verkündeten die Ankunft hoher Herrschaften und ihre Siege. Sie zeigten die Zeit an. Aber auch, wenn ein Verbrecher einen Ort verlassen musste oder zur Hinrichtung geführt wurde. Sie läuteten bei Hochzeiten und, wenn jemand gestorben war. Sie warnten vor dem herannahenden Feind und wurden bei Brand und Unwetter geschlagen. Die Vorstellung, dass ihr Klang Schaden abwehrt und Böses bannt, Gutes fördert und herbeiruft, ist, vom alten China ausgehend, über Zeiten und Räume bewahrt worden.
Deshalb waren die Glocken der Kirchen auch keine gewöhnlichen, sondern sakrale oder heilige Gegenstände. Dafür wurden sie vom jeweiligen Bischof geweiht.
3. Glocken-Ton: aus: Eine Reise durch Glockeneuropa: track 7
Glocke Maria Dolens, Rovereto
Autor 5:
Der Klang der geweihten Glocken trug die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen über Land. Mit den Inschriften der Glocken baten sie um Frieden und um den Schutz vor Unwetter und Missernten. Wie es auf einer mittelalterlichen Glocke heißt: Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze breche ich. Abwehrkräfte sprachen alle Völker den Glocken zu. So wurde am Baldachin des prunkvollen Leichenwagens Alexander des Großen eine Vielzahl von Glöckchen angebracht, um böse Geister fernzuhalten. Ähnlich wurde es beim christlichen Begräbnis gesehen. Die Glocke hinderte den Teufel, sich die Seele des Verstorbenen zu holen. Glocken wurden aber auch schon früh zum Schutz vor Tieren und für Tiere verwendet. Auch, damit man sie finden konnte, wenn sie frei weideten. Wie Cornelia Oefelein erklärt, bemühte man sich bei den Viehglocken darum, dass …
3. O-Ton: Cornelia Oefelein: wav 1121 (0’11’’ - 0’29’’) … tatsächlich also heute noch diese Glockenklänge aufeinander abgestimmt werden, sodass es jetzt nicht einfach so ein Getöse ist, also so ein Gebimmel. Sondern die Glockentöne der einzelnen Rindviecher oder anderes mehr sind aufeinander abgestimmt, sodass es also einen richtigen schönen Klang gibt.
Autor 6:
Ob die Glocke, die der berühmte Einsiedler Antonius mit sich geführt hat, gut geklungen hat, ist nicht bekannt. Er trug sie sehr wahrscheinlich zur Abwehr von Versuchungen und Dämonen. Auf vielen Bildern ist sein Kampf mit ihnen festgehalten worden. Oft ist er auch nur mit der Glocke, seinem Kreuzstab und einem Schwein dargestellt worden. Das Schwein erinnert an den nach dem Wüstenheiligen benannten Antoniter-Orden, der im 11. Jahrhundert gegründet wurde. Diese Mönche pflegten Menschen, die am sogenannten Antonius-Feuer erkrankt waren, einer Krankheit, die durch Schimmelpilze in Getreide verursacht wurde.
4. O-Ton: Cornelia Oefelein: wav 1124 (1’54’’ - 2’50’’) Der Antoniterorden hatte ein spezielles Privileg, Schweine zu halten und die waren dann wohl auch sehr gut in der Tierhaltung überhaupt. Und die durften ein Antoniusschwein halten, auch manchmal mitten in der Kirche oder direkt neben der Dorfkirche gab es dann … einen extra Stall und dieser Antoniusschwein durfte frei im Dorf herumlaufen. Und sodass er keine Schäden anrichtet, wurde ihm dann so eine Glocke umgehängt, also so eine Tierglocke. Und dann zum Antoni-Tag im Januar wurde dieses Schwein geschlachtet … und das Fleisch dann an Bedürftige, an Arme verteilt.
4. Glocken-Ton: aus: Eine Reise durch Glockeneuropa: track 1
Aus Eisenblech geschmiedete Klosterglocke
Autor 7:
Eine aus Eisen geschmiedete Glocke aus dem 9. Jahrhundert ist hier zu hören, wie sie die Mönche im frühen Mittelalter in ihren Klöstern hatten. Mönche waren es auch, die für die Verbreitung der Glocken in Europa sorgten. Als Missionare, die mit Bibel, Stab und Handglocke umherzogen. Aber auch als erste Glockengießer. Und noch etwas brachten sie mit den Glocken zu den Menschen. Schon der Zeitgenosse des Einsiedlers Antonius, der Ägypter Pachomius, der die ersten Klöster gründete, sorgte für einen geregelten Tagesrhythmus aus Arbeit, Gebet und Muße. Dazu wurden die Mönche durch ein akustisches Signal gerufen, ab dem sechsten Jahrhundert war dies eine Glocke.
Mit Hilfe eines Glockensignals wurde der lebensordnende Tagesrhythmus dann auch zu den Menschen außerhalb der Klöster gebracht. Noch heute bekannt ist das Angelusläuten zur Mittagszeit. Hier ruft die Hosianna-Glocke im Freiburger Münster zum Mittagsgebet.
5. Glocken-Ton: aus: Eine Reise durch Glockeneuropa: track 64
Hosianna-Glocke, Münster Freiburg
Autor 8:
Morgens, mittags und abends zeigten die Glocken einen bestimmten Tagesabschnitt an und riefen
zugleich zur Besinnung. Die Mittagsglocke rief nicht nur zur Unterbrechung der Arbeit. Erklang sie, dachten die Menschen an die Menschwerdung Gottes, die Geburt Jesu. Abends regten die Glocken dazu an, den Tag Revue passieren zu lassen, ihn aufzuarbeiten und zurückzulassen. Zugleich wurde an das Leiden und Sterben Jesu erinnert, eine Erinnerung auch an die Vergänglichkeit des Lebens. Beim Morgenläuten zu Tagesbeginn stand die Auferstehung Jesu am Ostermorgen vor dem inneren Auge. Das war zugleich eine Ermunterung, den rechten Weg durch den neuen Tag zu finden, ihn gewissermaßen zur persönlichen Auferstehung zu machen.
6. Glocken-Ton: aus: Eine Reise durch Glockeneuropa: track 11 Santiago de Compostela
Autor 9:
So klingt das Geläut von Santiago de Compostela, dem berühmten Pilgerziel. Von Ort zu Ort, von Geläut zu Geläut zogen die Pilger im Mittelalter über Land. Der Glockenklang war Heimat in der Fremde und an manchem Abend wies er auf eine menschliche Siedlung hin, auf Schutz und Herberge. Mit einer Urkunde ihres Bischofs waren die Pilger unterwegs, die sie vorzeigen konnten, um Kost und Logis zu erhalten und auf der sie sich am Ziel bestätigen ließen, dass sie dort waren. Einen Beleg dafür boten auch die schon erwähnten Pilgerzeichen, die die Pilger von vielen Stationen auf dem Weg nach Santiago de Compostela mitbrachten. Je mehr desto besser. Unter anderem aus Aachen, dem großen Sammelpunkt für Pilger, die aus Nordeuropa nach Santiago de Compostela unterwegs waren. Hier gab es alle sieben Jahre eine große Reliquienschau, die ein vornehmer Bürger aus Metz, Philippe Devenier, 1510 beschrieb. Wegen des großen Gedränges hatte er nur noch einen Platz auf einem Hausdach ergattern können.
5. O-Ton: Cornelia Oefelein: wav 1300
(0’45’’ - 1’07’’) So konnte er auf die Menschenmassen hinab schauen und dann auch direkt alles recht gut beobachten direkt gegenüber da an der Kirche. Von den Galerien hat man dann die Reliquien gezeigt und es wurde immer angekündigt und mit Prozession und Weihrauch und unten tobte das Volk (1’18’’ - 1’ 26’’) mit Trompeten und Hörnern dann und Ausrufen und die Glocken haben geklungen.
Autor 10:
Ein wenig wie beim Fußballspiel mit Fanfaren, Trillerpfeifen und Vuvuzelas muss es geklungen haben. Und in das ganze Geschrei, Getröte und Getute fielen die Glocken des Doms ein. Mit ihrem Klang im Ohr und den Pilgerzeichen zogen die Pilger dann weiter oder zurück in ihre Heimat. Zum Beispiel in die heutige Ostprignitz in das Dorf Barsikow. Dort ist ein Pilgerzeichen aus Aachen auf einer der Glocken im Kirchturm zu sehen. Es zeigt Maria als bekrönte Muttergottes mit dem Jesuskind. Wie seinerzeit im späten Mittelalter wird diese Glocke noch heute geläutet, wenn auch seltener. Und trägt noch heute ihre Botschaft und ihren Segen ins Brandenburger Land. Zur Ausbreitung der Harmonie zwischen Himmel und Erde, wie es schon die alten Chinesen glaubten oder zumindest als Schutz Gottes. Verbreiteten die Glocken einen angenehmen schönen Klang,
mochte das um so stärker empfunden worden sein. Zum Abschluss soll deshalb eine Glocke erklingen, die oft als schönste Glocke Europas bezeichnet wird: die Gloriosa aus dem Erfurter Dom.
7. Glocken-Ton: aus: Eine Reise durch Glockeneuropa: track 75 Gloriosa, Erfurt