11.05
2025
08:40
Uhr

Bücher, Glaube und Generationen

100 Jahre Buchhandlung Sonnenhaus

Ein Beitrag von Stefan Förner

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Sechs Schaufenster mit Galerie im Heinrich-Heine-Viertel in Berlin-Mitte. „Sonnenhaus“ sollte seine Buchhandlung heißen. Selbstbewusst entwarf der gerade mal 26-jährige Rudolf Ziegler das Firmenlogo für seine erste Buchhandlung selbst: wie das „Haus vom Nikolaus“, aus dem eine Sonne strahlt. Es sollte in der 100-jährigen Geschichte auch das größte Sonnenhaus bleiben. Katholisch geprägt von Anfang an, warn im Schaufenster neben Büchern auch Wanderausrüstungen und sogar Boote ausgestellt. Denn Rudolf Ziegler war von der sog. Quickborn-Bewegung geprägt und daher – wann immer es ging – lieber auf dem Land unterwegs. Wandern in der freien Natur gehörte zu dieser katholischen Jugendbewegung wesentlich dazu.
Die Eröffnung einer Buchhandlung, noch dazu einer christlichen und dann auch noch einer katholischen im „Babylon Berlin“ der 1920er Jahre vor ziemlich genau 100 Jahren war ein selbstbewusstes Statement. Dabei war Ziegler kein katholischer Einzelkämpfer. Der Jesuitenorden gründete das Canisius-Kolleg, der Priester Carl Sonnenschein engagierte sich publizistisch und sozial, Bernhard Lichtenberg gründete neue Pfarreien und im Hintergrund wurde an der Gründung eines Bistums Berlin gearbeitet.
Rudolf Ziegler hatte also Rückenwind, muss aber auch selbst eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein. Noch heute erinnerten sich Kundinnen an ihn, wie seine Tochter Heidrun Klinkmann weiß:

Heidrun K.:
Beim letzten mal als ich da war im Café sagte die eine Frau sagt Sie wissen was. Ich muss immer an Ihren Vater denken. Der Raum war proppe dicke voll und ihr Vater stand mit einem Buch in der Hand und hat es hochgehalten und hat über das Buch erzählt. 

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Die erste Buchhandlung wurde im Krieg zerstört. Nach einer Episode in der eigenen Wohnung in Bohnsdorf, etablierte sich das Sonnenhaus mit Rudolf Ziegler und seiner Frau Elisabeth am Hackeschen Markt und wurde eine Kiezgröße, über das katholische Milieu hinaus. Der Journalist und Autor Andreas Ulrich, manchen besser bekannt aus der Sportberichterstattung des rbb, erinnert sich:

Andreas Ulrich:
Am Sonnenhaus bin ich schon als Kind regelmäßig vorbeigekommen, weil unsere Oma, Oma Frieda, die Mutter meines Vaters, die wohnte ein paar Meter weiter am Monbijouplatz. Also wir sind da regelmäßig vorbeigekommen. Das hat mich fasziniert, schon von außen. Und wir sind dann auch immer mal reingegangen, Wenn in der Osterzeit oder Weihnachtszeit Karten gebraucht wurden zum Verschicken, dann sind meine Eltern mit mir dort ins Sonnenhaus gegangen und dann haben wir dort Karten ausgesucht. Und mich hat die Atmosphäre als Kind damals sehr beeindruckt. Das war irgendwie sehr freundlich, das hat geduftet. Ich kannte diesen Duft nicht. Ich weiß nicht, war es Weihrauch und es gab so interessante Sachen. Es gab Kalender und Bücher. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat man mich da auch geduldet, obwohl ich nur geguckt habe und Dinge angefasst. Später in den 80er Jahren, habe ich dann selber in der eigenen Wohnung in der Nähe gewohnt und war regelmäßig in der Buchhandlung, weil in meiner Erinnerung gab es da Bücher, die anderswo schwer zu haben waren. Auch Bücher in der DDR waren ja knapp, waren Mangelware, weil die Auflagen waren einfach zu gering, gemessen. An dem Wunsch der Leute. Also ich habe das in meiner Erinnerung, wenn du nach Christa Wolf gesucht hast oder wenn Stefan Heym woanders mal wieder ausverkauft war. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich mal einen Heinrich Böll dort erbeutet, der anderswo vielleicht gerade schwer zu haben war. Im Sonnenhaus gab es immer irgendwie eine Chance, solche Bücher noch zu kriegen. 

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Ein wenig Glück und vor allem die Sympathie des Buchhändlers brauchte es dabei aber auch. Raritäten wie Westdeutsche Lizenzausgaben von Heinrich Böll gab es nur wenige. An Westdeutsche hätte Rudolf Ziegler die nie verkauft, so Bettina Klinkmann, die als Enkelin die Buchhandlung in dritter Generation führt. Und auch sonst muss ihr Großvater etwas Pädagogisches an sich gehabt haben.

Bettina K.:
Dass man mit Büchern rausgegangen ist, die man eigentlich gar nicht kaufen wollte. Und bei anderen war es so, dass man wie eine Art Prüfung bestehen musste, um das Buch kaufen zu dürfen. War schon. Es war, glaube ich, nicht so einfach, Bücher zu bekommen. 

Musik: All Along the Watchtower | Bob Dylan

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Die Standorte der Buchhandlung Sonnenhauses bilden auch die wechselhafte Geschichte Berlins ab. Nachdem der großzügige Laden im Heinrich-Heine-Viertel einem Bombenangriff zum Opfer gefallen war, ging es mit den Büchern zunächst in der privaten Wohnung in Bohnsdorf weiter. Die längste Zeit war das Sonnenhaus am Hackeschen Markt, bevor dann bereits Rudolf Zieglers Tochter Heidrun Klinkmann raus musste und in den Heckmannhöfen neu die Regale aufbaute. Mit dem letzten Umzug in die Linienstraße 100 hatte dann schon Heidrun Klinkmanns Tochter Bettina, Buchhändlerin in der dritten Generation wesentlich zu tun. 
Irgendwie kämpfen mussten die Zieglers – auch wenn sie jetzt Klinkmann heißen – immer: zunächst um die Genehmigung für eine katholische Buchhandlung – mitten in „Berlin – Hauptstadt der DDR“, später mit den steigenden Mietpreisen und einer teils höchst unsanften Verdrängung vom bisherigen Standort.
Vermieter in der Linienstraße 100 ist die katholische Pfarrgemeinde. Die aktuelle Situation ergibt sich aus einem günstigen Preis-Leistungsverhältnis. Oder anders: mehr Quadratmeter wären schon schön, allerdings…

Andreas Ulrich:
Solche Buchhandlung wie das Sonnenhaus gibt es glaube ich nicht allzu häufig in Berlin und Brandenburg. Sicherlich auch dem schmalen Raum geschuldet, weil das ist ja heutzutage auch alles eine Frage des Quadratmeterpreises. Wie groß kann deine Verkaufsfläche sein? Also sind die Bücher dort dicht an dicht, auch auf Stapeln und nur die beiden Buchhändlerin wissen, wo welches Buch ist. Also das ist schon. Ja, das ist schon eine im besten Sinne wie eine Bücherhöhle, diese Buchhandlung.

Autor:
Also gemütlich und unübersichtlich, kuschelig und Bücher von allen Seiten. Und wer einmal dort war, wird überrascht sein, aus welcher Ecke plötzlich ein Stammkunde wie Andreas Ulrich auftaucht. Für Ulrich, der seinem Kiez auch schon literarisch Denkmäler gesetzt hat, steht auch die Bücherhöhle Sonnenhaus unter Denkmalschutz.

Musik: All Along the Watchtower | Bob Dylan

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Neben Bücherstapeln stehen oft auch Pakete mit dem bekannten blauen Pfeil zur Abholung für die Nachbarschaft in der Buchhandlung. Die unausgesprochene Regel: Bettina und Heidrun Klinkmann nehmen alle Pakete an, außer Büchersendungen, denn natürlich macht ihnen die Konkurrenz des berüchtigten Versandhandels nicht gerade wenig zu schaffen. Dabei hatte Sonnenhaus-Gründer Rudolf Ziegler seine eigene Art von Versandbuchhandlung schon viel früher erfunden:

Heidrun K.:
Papa ist mit dem Rucksack und mit und mit zwei Kisten und Mutti auch mit Rucksack und zwei Kisten losgezogen. Die sind ja dann immer sehr viel in den Gemeinden gewesen Wir mussten immer mit als kleine Kinder, meine Schwester und ich immer! Chorin waren wir auch schon. Aber ja doch, Vom Bahnhof laufen fand ich furchtbar. Als Kind ganz schlimm. Ist so weit zu laufen, vom Bahnhof bis zum Kloster.

Autor:
Leichter wurde es erst mit dem eigenen Fahrzeug, aber als Handlungsreisende in Sachen christlicher Literatur sind sie weiterhin unterwegs. Erst Mutter Heidrun, mittlerweile meistens ihre Tochter Bettina Klinkmann.

Bettina K.:
Im Frühjahr sind es nicht mehr ganz so viele. Erstkommunion, Elternabende und vor Ostern sind wir eigentlich immer noch in der einen oder anderen Gemeinde am Wochenende. Dann kommt die Open Air Zeit Wallfahrten, Familienwallfahrt, Dekanatstag Chorin, solche Sachen. Und dann gibt es eine kleine Sommerpause. Und dann gibt es zum Advent wieder die Büchertische in den Gemeinden. Und Advent ist immer heftig. Oktober, Anfang November, jetzt los und dann bis dritten Advent. Es ist mehr der Alte Osten. Es sind viele Gemeinden, wo schon mein Großvater war, also, und der Westen, da versuchen wir es hin und wieder. Oder wenn ein bekannter Pfarrer versetzt wird, dann versucht er es auch.

Autor:
Feste und regelmäßige Ziele sind neben dem schon erwähnten Dekanatstag im Kloster Chorin auch das Jugendbildungshaus des Bistums in Alt-Buchhorst östlich von Berlin zu Wallfahrten und anderen kirchlichen Großveranstaltungen. Die weiteste Strecke führt bis an die Ostsee und verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen. Beim Dekanatstag in Vorpommern profitiert das Sonnenhaus davon, dass es so mobil ist.

Bettina K.:
Da ist der Deal, das finde ich total nett, dass man quasi Freitagabend schon kommen kann und bis Sonntag bleiben. Und wir brauchen sozusagen für die Übernachtung nicht zu zahlen und fürs Frühstück. Sie laden uns ein und laden uns ein, noch einen Tag länger zu bleiben, was natürlich Super. Super. Und das finde ich toll, dass sie das machen, also dass die auch zeigen, das ist toll, dass man sich auf den Weg macht, weil ist ja viel Arbeit, viel Schlepperei, Benzin. Na ja.

Autor:
Denn für die Außeneinsätze muss Bettina Klinkmann jedes Buch mindestens zwei Mal anfassen, aus dem Bücherregal rein in die Transportkiste, dann raus aus der Kiste und auf den Büchertisch. Und wenn es nicht gut läuft, muss das Buch auch wieder mit zurücktransportiert werden.

Musik: Romeo and Juliet | Dire Straits

Autor:
Dass das Sonnenhaus seit 100 Jahren ganz bewusst als eine katholische Buchhandlung geführt wird, sieht man nicht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, wenn man dran vorbeigeht in der Linienstraße 100. Bestseller und manche persönliche Leseempfehlung von Heidrun und Bettina Klinkmann prägen das Schaufenster, davor ein Ständer mit Postkarten, die bekannte Mischung von originell bis anlassbezogen, also von Geburt über Geburtstag bis zur Kondolenz.

Bettina K.:
Ich habe immer gedacht früher und also wenn ich die Buchhandlung mal übernehmen sollte, dann kommt der ganze christliche Scheiß raus. Also das wäre der Tod der Todesstoß gewesen. Und abgesehen davon, dass man ja auch älter wird und irgendwie so ein bisschen reinwächst. Aber das ist ganz oft quasi unsere Rettung, dass wir diese Nische haben, sonst wären wir schon lange weg vom Fenster, sonst wären wir schon lange weg.

Autor:
Denn auch wenn sie weniger werden, die Katholiken in der Region, Kinderbibeln zur Geburt oder Einschulung, Gotteslob zur Erstkommunion. Es wird weiterhin gebraucht. Und weiterhin ist es Ehrensache für viele Pfarrer, dass sie ihren Bedarf an Fachliteratur aber auch an liturgischen Büchern über das Sonnenhaus decken. Am vergangenen Wochenende haben Heidrun und Bettina Klinkmann gefeiert und gratuliert hat u.a. auch der Nachbar und Stammkunde Andreas Ulrich:

Andreas Ulrich:
Ich wünsche den beiden Frauen erstmal ganz, ganz viel Gesundheit und das ganz, ganz lange. Und ich wünsche ihnen, dass sie an diesem Ort, nachdem Sie in den letzten 100 Jahren mit der Buchhandlung so oft umziehen mussten, dass sie da jetzt möglichst lange bleiben können. Und ich wünsche Ihnen weiter treue Kundinnen und Kunden. Weil klar kannst du dir im Internet jedes Buch bestellen und übermorgen ist es da. Aber ein Buch im Laden zu kaufen ist noch mal was anderes. Und von den Klinkmanns kriegst du dann vielleicht auch noch mal einen Hinweis, welches weiterführende Buch, was sie dir auch noch empfehlen könnten. Also bleibt gesund und bleibt bitte noch lange, lange an diesem Standort!

Musik: Romeo and Juliet | Dire Straits