Pfarrer David Hassenforder: Ja, ich glaube, das wäre der einfachste Weg, alles zu verkaufen an einen Investor, der sich dann auch mit Problematiken wie Sanierungsstau oder auch dem Denkmalschutz auseinandersetzt. Ich meine, es ist ein Filetstück, denke ich, hier in Spandau, in der Wilhelmstadt. Aber der einfachste Weg ist nicht immer der beste. Und ich glaube, wir sollten es uns eben als Kirche nicht zu einfach machen.
Autor: Pfarrer David Hassenforder hat ein Problem. Vielleicht ein Luxusproblem in einer Stadt wie Berlin: Er hat in seiner Kirchengemeinde nämlich Räume. Aber die werden kaum noch genutzt. Der Pfarrer der Gemeinde Sankt Johannes der Täufer in der Spandauer Wilhelmstadt will die kirchlichen Gebäude aber nicht einfach leerstehen lassen. Und große Kirchen verursachen zudem ja auch hohe Heizkosten für die paar Gottesdienstbesucher in den ansonsten großteils leeren Bänke. Das soll nicht so bleiben. Deshalb probiert der Pfarrer zusammen mit anderen in der Gemeinde ein neues Konzept aus:
Pfarrer David Hassenforder: Das Anliegen, als Kirche weiterhin präsent zu sein, gerade in einem Bezirk, der unglaubliche Veränderungen durchmacht und auch in Zukunft noch vor sich hat, das ist ein ganz berechtigtes Anliegen. Die Frage ist einfach, können wir so präsent sein, wie wir in den letzten 60 Jahren hier präsent gewesen sind oder müssen wir manches neu denken? Und da bin ich sehr froh, dass wir da auch den Generalvikar als Verbündeten haben, die Zukunft von St. Wilhelm neu zu denken, damit Sankt Wilhelm eine Zukunft hat.
Autor: Der Generalvikar, also der Verwaltungschef des Erzbistums Berlin, hat dem Konzept, den Ort weiterzuentwickeln, zugestimmt. Und so ging die Gemeinde auf die Suche nach weiteren Kooperationspartnern. Damit die Räume wieder sinnvoll genutzt werden können. Denn Bedarf ist da: für soziale Angebote, für kulturelle und sportliche Aktivitäten - oder einfach als Raum, um sich zu treffen, miteinander zu reden, zu feiern und zusammen zu sein. So entsteht auf dem Gelände und in den Räumen der katholischen Kirche St. Wilhelm und des Gemeindesaals im Untergeschoss seit einem guten Jahr ein Ort, der von der Nachbarschaft gerne genutzt wird. Sankt Wilhelm ist ein Kulturort in der Stadt. Und soll das auf neue Weise bleiben und wieder werden: dazu gehören Tanz-Workshops, Jam-Sessions, Clown-Klavierkonzerte für kleine Kinder und ihre Familien oder ein Saaten- und Pflanzentausch und eine Lange Tafel auf der großen Terrasse. Margit Beutler, Projektmanagerin im Erzbischöflichen Ordinariat im Arbeitsbereich Pfarreientwicklung, sieht hier gute Möglichkeiten:
Margit Beutler: Das Besondere ist das Zusammenspiel der ganz unterschiedlichen Akteure. Also wir haben Akteure aus dem sozialen Bereich, aber auch aus der Kultur, natürlich auch die Gemeinde, die mit vor Ort tätig ist. Also der Raum ist natürlich erstmal ein Freiraum und ein Gestaltungsraum, der sich hier uns offenbart hat. Und was das Positive natürlich auch ist, ist die Bereitschaft der Gemeinde, sich zu öffnen.
Autor: Kirche geht neue Wege. Und eröffnet so ganz neue Möglichkeiten. Gemeinsam mit ihren Partnern will sie etwas tun gegen Altersarmut und Einsamkeit, gegen Jugendkriminalität und Langeweile - mit viel Eifer und Gestaltungswillen. Das kommt an. Einer, der ganz nah dran ist und gerade deshalb das Projekt so gut findet, ist der Spandauer Bezirksbürgermeister Frank Bewig. Er sagt:
Frank Bewig: Mein Wunsch wäre tatsächlich, dass wir oder Sie auf Fachebene diese Zusammenarbeit weiter intensivieren auch und gerne uns auch immer - und wir kommen auch auf Sie zu - mit einbinden ein Stück weit, weil die Zeiten werden schwieriger werden natürlich insgesamt auch was Haushaltsmittel und andere Dinge angeht. Und umso wichtiger ist, dass hier nicht was entwickelt wird, fernab von im Zweifel auch schon politischen Entscheidungsträgern, die dann am Ende auch über Mittel entscheiden. Ich glaube, dann ist es erfolgsversprechender; und deswegen viel Erfolg auch von mir natürlich für das ganze Projekt.
Autor: Erste Erfolge sind schon da; der Weg selbst ist nämlich schon ein Zwischenziel, freut sich Margit Beutler. Und berichtet:
Margit Beutler: Also es ist zum einen erstmal ein Prozess und es ist ein wahnsinniger Erfolg für uns, dass eben ganz unterschiedliche Menschen und Akteure miteinander in den Austausch gehen. Wir handeln hier sehr viel miteinander aus. Es gibt natürlich unterschiedliche Perspektiven, die miteinander in Kontakt kommen. Wir können Ressourcen poolen und in diesem Lernprozess begegnen sich ganz unterschiedliche Menschen, nehmen die Bedarfe, aber auch die Potenziale des jeweils anderen wahr. Und so muss ich sagen, so ist der Prozess auch schon ein Erfolg für uns.
Autor: Projektpartner sind etwa der Gemeinwesenverein sozial-kulturelle Netzwerke casa, die Berlin Mondiale - ein Netzwerk von Künstler*innen und Kulturschaffenden im Umfeld von Migration, Asyl und Exil. Mit dabei ist auch das Tanzensemble Sasha Waltz & Guests, die Berliner Institution für zeitgenössischen Tanz. Bei Sankt Wilhelm finden sie Räume, um mit jungen Talenten zu proben. Und Unterstützung gibt es auch vom Berliner Kultursenator Joe Chialo, selbst katholisch. Der hat sich bei einem Besuch vor Ort ein Bild gemacht.
Joe Chialo: Das Besondere hier dran ist für mich auch als Katholik, dass die Kirche und die Kultur hier auf eine wunderbare Art und Weise zusammenkommen. Und zwar hat es ja auch eine gesellschaftspolitische Komponente der Teilhabe. Und wir werden natürlich auch als Land Berlin weiterhin, weil es auch politisch für mich ganz wichtig ist, dieser partizipative Gedanke, alles dafür geben, dass diese Jugendkulturinitiative auch weitergeht. Denn ich glaube, wir werden gerade in diesen Zeiten massiv herausgefordert. Und es ist wichtig, diese Brücken auch für die Zukunft aufrechtzuerhalten.
Autor: Das kostet Geld. Und das ist in Berlin knapp. Der Senat kürzt Zuschüsse. Neue Geldgeber sind gefragt. Das ist nicht einfach. Gerade in der jetzigen Situation. Aber gemeinsam soll es was werden, ist sich Joe Chialo sicher:
Joe Chialo: Also ich denke, das ist eine partnerschaftliche Rolle, die wir miteinander einnehmen müssen. Es sind ja verschiedene Akteure, die hier gerade bei diesem Projekt wirken. Sasha Walz & Guests, wir haben hier Berlin Mondiale, die hier vor Ort natürlich die Koordinationsaufgabe übernehmen, aber eben auch die Kirche. Die Kirche, die selber vor großen Herausforderungen steht. Wie schaffen wir es heutzutage, Menschen für das lebendige Wort Christi zu begeistern, zu erreichen? Und ich glaube, dass das durchaus eine Brücke sein kann, über die man gehen kann, um Menschen mit dem, was das Wort Gottes zu wirken vermag, aus dem Alltag heraus mitzunehmen. Und da freue ich mich sehr, dass es gerade die katholische Kirche ist, die hier diesen, wie ich finde, modernen Schritt geht.
Musik: Scorpions „Wind of Change“
Autor: Die Spandauer Wilhelmstadt gilt als „infrastrukturell unterversorgte Bezirksregion“ mit hoher Arbeitslosigkeit auch von Jugendlichen, mit einer überdurchschnittlichen Kinderarmut und mit hoher Gewaltbelastung. Ein benachteiligtes Quartier. Aber eines mit Potenzial. Genau hier unternimmt die katholische Kirchengemeinde ein Experiment: Weil die Gemeinderäume kaum noch genutzt wurden, werden sie geöffnet für sozial-kulturelle Angebote im Kiez: ein Digitalcafé, eine Französisch und Spanisch Konversationsgruppe, ein Sprachcafé, einen vhs-Lerntreff und mehr: Der Experimentierort „Bei Wilhelm“ geht neue Wege, berichtet Pfarrer David Hassenforder:
Pfarrer David Hassenforder: Erstmal ist es wichtig, dass Kirche dort ist, wo die Menschen sind. Und die Wilhelmstadt ist ein Bezirk voller unterschiedlicher Menschen mit ganz vielen Herausforderungen und Problemen. Und wir wollen weiter als Kirche hier auch Flagge zeigen. Wir machen die Erfahrung, dass wir es nicht alleine können. Und das sehe ich eben dann als Chance, uns zu öffnen im Kiez, der Kirche ein Gesicht zu geben, aber eben auch ein Anlaufpunkt zu werden für Menschen, die bisher vielleicht nie etwas mit Kirche zu tun hatten, mit Partnern, die aus ganz unterschiedlichen Bereichen zu kommen und dann zu schauen, was verbindet unsere Anliegen.
Autor: Kirche, Karitatives, Kultur und Kunst. Da geht manches zusammen. Oben in der Stahlbetonkirche aus den 60er Jahren, die unter Denkmalschutz steht, gibts weiterhin Gottesdienste und vielleicht auch mal Konzerte. Im Untergeschoss, im Gemeindesaal finden die anderen Veranstaltungen statt. Rundherum gibt es auch reichlich Platz auf dem Gelände der freistehenden Kirche. Beste Voraussetzungen also - und: Win-Win für Kirche und Kultur, sagt Markus Weber, der Leiter des Arbeitsbereichs Pfarreientwicklung im Erzbistum Berlin:
Markus Weber: Eigentlich kostet es erstmal gar nicht viel Geld, weil wir ja hier erstmal etwas machen. Wir fangen nicht an zu bauen, sondern wir gucken, wie wir die Dinge, die wir hier haben, nutzen können, die ja auch lange Zeit wirklich leer stehen oder nur wenig genutzt sind. Und wollen dann gucken, was heißt es, vielleicht auch ein paar Sachen nochmal zu investieren. Sicherlich aber nicht in dem Umfang, dass man sagt, man macht hier eine Totalsanierung, sondern so, dass die Angebote, die wir jetzt hier planen, die wir mit den Kooperationspartnern zusammen haben, dass das möglich ist. Da geht es eher um die Frage von Barrierefreiheit und Brandschutz, dass das natürlich da ist. Aber hier steht jetzt keine große Sanierung an. Und wir haben auch dem Bezirk gesagt, uns geht es darum, erstmal das als ein Projekt zu starten und nicht zu sagen, wir wollen irgendwelche riesigen Fördermittel, die uns dann aber für 20 Jahre binden, weil wir wissen noch gar nicht, wo es halt hingeht.
Autor: Ein Experiment. Mutig und menschennah. Von den Erfahrungen könnten auch andere Kirchengemeinden profitieren, eigenes ausprobieren und lernen - so wie bei Sankt Wilhelm in Spandau, sagt Markus Weber:
Markus Weber: Ich glaube genauso, wenn da Ideen sind, wenn man da, und da sind wir auch gerade dabei, mit diesem Immobilienentwicklungsprozess, zu gucken, wo sind Standorte, wo es ein Potenzial gibt, dass man da wirklich auch Dinge vielleicht mal versucht, die nicht so typisch sind. Also diese Freiheit wird es auch geben. Gleichzeitig muss man aber auch sagen, das passt nicht überall. Und dementsprechend kann es auch sein, dass wenn keine Menschen mehr da sind, wenn auch Leute sich da nicht engagieren, dann kann man das nicht aufsetzen, das wird nicht funktionieren. Aber da, wo es Orte sind, die wirklich dieses Potenzial haben, ich glaube, da wird das Bistum ganz klar unterstützen. Also ich werde es auf jeden Fall tun.
Autor: So ein Veränderungsprozess sorgt natürlich auch für Widerstände. Manche wünschen sich vielleicht die angeblich so gute alte Zeit zurück. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die Kirche muss sich verändern, um zukunftsfähig zu bleiben. Diese Erfahrung hat man in Sankt Wilhelm gemacht. Und das kostet nicht nur Abschiedsschmerz von Altem, sondern auch viele Gespräche und Überzeugungsarbeit, auch Trostarbeit. Aber es lohnt sich, weiß Markus Weber:
Markus Weber: Also ich glaube, den Leuten bewusst zu machen, dass wenn wir so einen Weg wie hier nicht gehen, dann würde das bedeuten, dass es diesen Standort gar nicht mehr gibt. Und ich glaube, da muss man einfach offen und ehrlich mit den Menschen sprechen. Die Trauer kann man nicht nehmen, die gehört einfach mit dazu glaube ich auch, damit was Neues entstehen kann. Und die Alternative ist, dass hier nicht mehr Kirche vor Ort ist an diesem Standort. Und deswegen glaube ich, ist es wichtig, dass wir das jetzt genau machen. Ich meine, hier sind ja viele Menschen, die hier jahrelang mitgeholfen haben, dass es das überhaupt noch gibt. Und in der Folge: ich glaube, man man muss immer wieder versuchen, den Menschen zu erklären: Was haben wir jetzt hier vor? Und natürlich dieser Sprung, dass wir da sind für alle Menschen, sollte uns zwar immer klar sein, aber wir waren halt doch mehr die Schrebergärten, also die sozusagen sich wohlfühlen intern. Aber dieses so nach außen kam nicht mehr so vor. Und deswegen ist es, glaube ich, so ein Transformationsprozess, der einfach auch sehr lange dauert. Ich bin jetzt schon 10 Jahre der Verantwortliche für diesen Prozess und ich musste lernen, dass das alles viel länger braucht, als man denkt.
Autor: Noch laufen die Experimente in Sankt Wilhelm. Wie es am Ende wird, kann noch niemand so genau sagen. Aber schon den Versuch ist es wert. Mit einem Blick in die Zukunft habe ich Margit Beutler, die Projektkoordinatorin, gefragt, woran sie den Erfolg dann erkennt und festmacht: Wie sieht es dann aus? Was ist bis dahin in Sankt Wilhelm passiert?
Margit Beutler: Was ist dann passiert? Ich würde sagen, es ist zu einem Ort geworden, der von der Nachbarschaft angenommen wurde. Es ist zu einem Ort, an dem sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen begegnen, miteinander in Austausch gehen, ein Ort, den sie sich aneignen, den sie gemeinsam bespielen.
Autor: Das braucht Geduld. Und Geld. Und Gestaltung. Und auf diesem Weg ist die Spandauer Gemeinschaft mit dem Experimentierort bei Wilhelm. Auf einem guten Weg - und dann gewiss auch mit dem Segen von ganz oben.
Musik: Israel "IZ" Kamakawiwo'ole - Over the rainbow