Autor
Die offizielle Länge eines Marathons beträgt 42,195 Kilometer. Eine Distanz, für die ein gesunder Mensch lange trainieren muss, um sie laufen zu können. Und mit einem kaputten Knie geht so etwas schon mal gar nicht. Denkt man. Doch José Ricardo Leandro Diniz hat den Berlin Marathon im vergangenen Jahr mit einer Zeit von 3 Stunden 56 Minuten vollendet – und zwar mit einem Knie, das dir ein Arzt sogar amputieren wollten. Bevor wir darüber sprechen, verrat uns doch mal: Läufst du dieses Jahr wieder?
Pater Ricardo
Ja, ich freue mich sehr, dass ich dieses Jahr wieder dabei bin.
Autor
Und hast du dir schon eine Zielzeit vorgenommen?
Pater Ricardo
Nein, dieses Jahr nicht. Natürlich wollte ich schneller machen als das letzte Jahr, aber weil ich mich nicht so gut vorbereitet habe wie das letzte Jahr, das Hauptziel ist dieses Jahr, das Ziel zu erreichen.
Autor
Du sagst, du bist nicht gut vorbereitet. Aber ich glaube, du bist ja auch als Triathlet unterwegs, oder?
Pater Ricardo
Ja, genau deswegen. Ich habe mich für den Triathlon vorbereitet. Und weil man dazu Schwimmen und Fahrradfahren muss, habe ich nicht so häufig oder so viel gelaufen.
Autor
Und beim Berlin-Marathon kannst du ja auch nicht in die Spree hüpfen und ein bisschen Schwimmen.
Pater Ricardo
Nein, kann man nicht, ja leider nicht (lacht).
Autor
Ricardo, Du hast so einen wunderbaren Akzent. Bei dir klingt das Deutsche gleich sehr viel rhythmischer als bei mir. Du bist in Brasilien geboren. Wie und wo bist du aufgewachsen?
Pater Ricardo
Ich bin Brasilianer. Ich komme aus Südbrasilien, mein Bundesland heißt Parana, und meine Heimatstadt heißt Londrina. Londrina bedeutet Klein-London, weil die Engländer Londrina kolonisiert haben.
Autor
Du hast mir erzählt, als Kind warst du so ein richtiger Lümmel. Du hattest eine Lehrerin, der du immer wieder Streiche gespielt hast. Was hast du gemacht?
Pater Ricardo
Zum Beispiel – wir haben – ich habe das nicht allein gemacht - aber wir haben jede Woche für diese Lehrerin zum Geburtstag gesungen und ihr gratuliert, wie wenn sie jede Woche Geburtstag gefeiert hätte und sie hat sich extrem geärgert und war sehr sehr sehr sauer und böse auf mich, aber auch auf die anderen, die das mit mir gemacht haben.
Autor
Du bist katholischer Priester und du hast diese Lehrerin später noch einmal wiedergetroffen.
Pater Ricardo
Genau, ich war schon hier in Deutschland. Wie jedes Jahr fliege ich nach Brasilien, um Urlaub zu machen. Und ich bin unterwegs gewesen mit einer Mutter um einzukaufen und plötzlich hat diese Lehrerin mich im Supermarkt gesehen, ist zu mir gekommen. Und gefragt: Bist du der Ricardo? Ja, ja, ich bin Ricardo. Und ich hatte sie auch sofort erkannt. Und habe mich ein bisschen geschämt. Dann hat sie mir gesagt, mich gefragt: Ich habe gehört, das, das das, du bist Priester. Ich habe gesagt ja. Dann hat sie angefangen zu weinen. Und hat mir so gesagt, dass sie für mich gebetet hat, weil du ein unmögliches Kind war. Und diese Sachen. Das war eine schöne Begegnung mit ihr.
Autor
Die Lehrerin wusste das auch schon: Es war eigentlich ziemlich unwahrscheinlich, dass du diesen Weg wählst. Dass du einmal Priester werden würdest. Und Du hast schon mit 14 Jahren angefangen in einem Autohaus zu arbeiten, warst also völlig unabhängig, hattest ein Auto, dein eigenes Geld. Und: über Jahre hinweg eine Freundin. Du hattest also sehr viel, wovon junge Menschen eigentlich so träumen. Und doch so richtig zufrieden warst du nicht.
Pater Ricardo
Ja, genau
Autor
Es hat was gefehlt. Was war das?
Pater Ricardo
Ich hatte sozusagen, was ein Junge haben wollte. Ich war 20 Jahre alt, 19 Jahre alt. Und wie du gerade gesagt hast. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es fehlt mir etwas. Ich habe mit einem Priester darüber gesprochen und er hat mir empfohlen einen Berufsweg zu machen.
Autor
Das war so etwas wie eine Berufsberatung.
Pater Ricardo
Das dauerte ein ganzes Jahr. Als ich drei Monate dabei war, habe ich so ein Gefühl gehabt, dass ich doch irgendwas in die Richtung der Kirche versuchen sollte. Mindestens versuchen.
Autor
Deine Familie glaubte ja zuerst an einen Scherz.
Pater Ricardo
Genau. Meine Mutter hat gelacht. Mein Vater auch. Meine Geschwister haben das überhaupt nicht ernst genommen. Ja, das war nicht ganz einfach. Meine Freundin auch. Das war für meine Freundin ein Schock, als ich gesagt habe, ja, wir müssen jetzt aufhören, weil ich eine Erfahrung in einem Priesterseminar machen möchte.
Autor
Und konntest du das verstehen?
Pater Ricardo
Ein bisschen schon. Meine Familie auch. Weil ich niemals zuhause darüber gesprochen hatte. Weil ich selbst das wirklich nicht im Blick hatte. Ich habe das wirklich nie gedacht, das Priester zu sein. Eine Berufung für mich wäre. Aber ich habe das gemacht. Am Anfang war ich selber extrem unsicher. Alles was ich wusste war, ich muss es versuchen. Und hat geklappt. Ich bin Priester schon seit fast 14 Jahren, und seit 13 Jahren schon in Deutschland. Bin gut zufrieden. Und dieses Gefühl, das ich damals hatte, es fehlt mir etwas, habe ich heute nicht mehr. Und das ist die größte Antwort von Gott für mich und für mein Leben.
Autor
Pater Ricardo läuft Marathon und er ist Katholischer Priester und Ordensmann. Er stammt eigentlich aus Brasilien. Heute arbeitest du aber als Pfarrer der portugiesisch sprachigen Gemeinde in Berlins. Da musst du mal erzählen: Was ist das überhaupt?
Pater Ricardo
Bei uns in der Gemeinde gibt es Menschen die Portugiesisch sprechen. Und alle Leute, oder viele Leute denken portugiesisch sprechen die Leute kommen aus Portugal oder Brasilien. Stimmt, aber nicht nur. Wir haben Leute bei uns in der Gemeinde, die aus sechs verschiedenen Ländern kommen. Wie gesagt schon Brasilien, Portugal, aber auch Mozambik, Angola, Guinea-Bissau und Kap Verde. Sind Leute die zu uns, die jedes Wochenende zu uns kommen, um mit uns zu beten, mit uns zu feiern. Die Gemeinde ist wirklich eine supergute Gemeinde, sehr aktiv, sehr lebendig.
Autor
Bestimmt laut und fröhlich. So stell ich mir das vor. Und sag mal, kommen die aus dem Berliner Raum oder kommen die auch aus Brandenburg zu euch?
Pater Ricardo
Auch. Die meisten wohnen hier in Berlin. Aber es gibt auch Leute, die zu uns kommen, die aus Potsdam, Brandenburg kommen. Also es gibt Leute, die jedes Wochenende oder jeden Sonntag über eine Stunde mit der Bahn fahren müssen, um zu uns zu kommen.
Autor
Wir haben vorhin schon gehört, du stammst aus Londrina, Klein-London, in Brasilien, das ist ungefähr 500 Kilometer westlich von Sao Paolo. Um da mal einen Anhaltspunkt zu haben. Das ist ja schon ein weiter Weg bis nach Berlin. Wie kommt es dazu, dass du heute hier bist?
Pater Ricardo
Ich bin Herz-Jesu-Priester. Die Herz-Jesu-Priester sind heute präsent in 45 verschiedenen Ländern. Die Herz-Jesu-Priester sind in Brasilien, weil die deutschen Herz-Jesu-Priester vor 100 Jahren nach Brasilien ausgewandert sind, und die Arbeit als Herz-Jesu-Priester in Brasilien angefangen haben. Daher gibt es diese Partnerschaft zwischen der deutschen und der brasilianischen Provinz, dass alle drei, vier Jahre die brasilianische Provinz einen Mitbruder nach Deutschland schicken.
Autor
Du bist 45 Jahre alt. Und du lebst schon, hast du mir erzählt, seit 13 Jahren in Deutschland. Also warst du noch sehr jung im Orden. Und wahrscheinlich gerade erst zum Priester geweiht worden, als du nach Deutschland gegangen bist. Aber bevor du in der Großstadt Berlin angekommen bist, warst du auf einem klitzekleinen Dorf im Emsland, und zwar in Handrup, wo dein Orden ein katholisches Gymnasium betreibt. Erzähl doch mal, du warst als Schulseelsorger unterwegs, wie ist es ihr damit ergangen?
Pater Ricardo
Ja, genau. Das war doch ein Schock. Die drei ersten Monate habe ich wirklich gedacht wegen der Sprache, dass das nicht klappen würde. Aber mit meiner brasilianischen Art sozusagen habe ich den Kindern immer gesagt: Bitteschön könnt ihr ein bisschen langsamer mit mir reden. Oder deutlich mit mir reden, ich kann euch nicht verstehen. Nach dieser Zeit, diese drei oder vier Monate, ist es immer nur besser und leichter geworden. Ich bin dort acht Jahre geblieben, und das war wirklich eine schöne Zeit meines Lebens.
Autor
Pater Ricardo lebt als Brasilianer seit 13 Jahren in Deutschland. Er ist katholischer Priester und hat schon immer gern Sport gemacht. Und im vergangenen Jahr ist er Marathon gelaufen, und hatte aber davor massive gesundheitliche Probleme. Und das Knie, das kannst du noch einmal selbst erzählen, Dein Knie war eigentlich inoperabel.
Pater Ricardo
Ja, weil das Knie schon dreimal operiert worden ist, deswegen bis heute habe ich zum Beispile keinen Meniskus, keine Kreuzbänder mehr. Dieses Knie kann man nicht mehr operieren. Und weil ich auch Übergewicht war, das war eine sehr schlechte Kombination. Daher haben mir die Ärzte empfohlen, eine Knieprothese zu bekommen.
Autor
Da hast du dich aber dagegen entschieden. Das war für dich natürlich ein Schock für dich.
Pater Ricardo
Das war für mich ein Schock. Und ich bin bei vier verschiedenen Ärzten gewesen. Die vier haben die gleiche Meinung gehabt. Aber einer hat gesagt: Wir können auch was anderes versuchen, wenn Sie mindestens 35 Kilo abnehmen. Ich habe das akzeptiert und so ist gewesen. Ich bin nach Brasilien geflogen und da ist mein Magen operiert worden, und nach dieser Operation habe ich tatsächlich 40 oder 44 Kilo abgenommen. Jetzt habe ich wieder ein paar Kilos drauf. Aber das hat gut geklappt und ich kann ganz normal Sport machen und dadurch bin ich das letzte Mal den Berlin Marathon gelaufen, mitgelaufen.
Autor
Aber 3 Stunden 56 Minuten – das ist schon eine richtig gute Zeit. Wer sich da so ein bisschen auskennt. Mit deiner ganzen Krankheitsgeschichte, mit dem Übergewicht, das du hattest, diese große Leistung auch so viel abzunehmen. Das klingt schon wie ein Wunder! Oder?
Pater Ricardo
Genau, ich sehe das auch so und wirklich nicht nur weil ich Priester bin. Das ist wirklich wie ein Wunder. Ich denke, das das gilt für fast alles in unserem Leben. Wenn wir machen, was wir machen können, was zu uns gehört, aber auch glauben, dass Gott mitwirkt, wenn wir ihm diese Freiheit geben – das klappt immer.
Autor
Das ist ja schon eine gute Zusage, für alle die den Berlin Marathon heute laufen. Und jetzt darfst du jetzt auch zum Schluss der Sendung noch einmal Portugiesisch sprechen. Wünsch doch mal bitte allen Läuferinnen und Läufern, die heute am Start sind, auf Portugiesisch, ein gutes Durchhalten, einen erfolgreichen Lauf und Gottes Segen!
Pater Ricardo
Portugiesisch