06.10
2024
08:40
Uhr

Projekt Hörkirche

Die Notkirche Buschdorf im Oderbruch

Ein Beitrag von Markus Witzemann

Autor

Eigentlich hat Buschdorf keine Kirche mehr. Wie in vielen Dörfern im Oderbruch wurde die alte Dorfkirche im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Was der Krieg nicht zerstörte, ließ die DDR-Regierung dann in den Folgejahren vielerorts abreißen. So auch in Buschdorf. Doch weil die Menschen hier fest davon überzeugt waren, eine Kirche am Ort zu brauchen, bauten sie sich kurzerhand selber eine. So entstand eine kleine schmucklose Holzbaracke, eigentlich als Provisorium gedacht. Doch diese Notkirche steht nun schon seit 66 Jahren. In den 2000er Jahren renovierten die Buschdorfer ihren Holzbau noch einmal, doch seit einiger Zeit finden mittlerweile  keine Gottesdienste mehr hier statt. Die Kirche ist verschlossen. 

Doch das kann sich ändern, sagt Kunsthistorikerin Katja Lehnert. Seit sie mit Ihrem Ehemann, dem Künstler Ingar Krauss, nach Buschdorf gezogen ist, fasziniert sie der so untypische Gottesbau – gerade in seiner Schlichtheit. (55)

Take 1 Katja Lehnert, Co-Entwicklerin des Projekts 

Wir wollten diesen Raum öffnen. Denn das ist so ein guter Raum. Der hat so eine schöne Schlichtheit, die ist so ehrlich. Also er gibt nicht vor, mehr zu sein. Und vielleicht (…) bildet sich hier ja die Situation der Kirche jetzt im Oderbruch gerade viel besser ab, als in noch erhaltenen prächtigen Kirchen, die es hier auch (...) noch gibt, vor allem im nördlichen Oderbruch, das vom Krieg nicht so hart getroffen worden ist. (32)

Autor

Doch was soll in der Kirche nun passieren, wenn dort keine Gottesdienste mehr stattfindent? In Künstlerkreisen entsteht die Idee für eine Hörinstallation, die ganz bewusst die Geschichte des Ortes und seiner kleinen Kirche aufgreift. Ingar Krauss und Katja Lehnert kontaktieren Pfarrer Hannes Langbein, er ist Kunstbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Direktor der Kulturstiftung Sankt Matthäus. Und der fängt Feuer:(25)

Take 2 Hannes Langbein, Pfarrer St. Matthäus Berlin und Kunstbeauftragter der EKBO

Die beiden erzählten von ihrer Idee, dass es um Glauben und Zweifeln geht, also im Prinzip zeitlose Themen, die immer eine Rolle spielen, aber auch noch mal speziell in dieser Gegend, also wirklich ein Stück weit in der kirchlichen Diaspora, ich fand das eine interessante Idee. Und dann ging das los, dann haben wir zusammengearbeitet, auch überlegt, was könnte man eben lesen. Es gab viele andere Ideen auch, aber am Schluss haben wir uns für diesen Text der Selbstverbrennung von Hartmut Lange entschieden, und dann auch gemeinsam den Sprecher gesucht, das ist Sylvester Groth, ein großer Schauspieler mit einer fantastischen Stimme. Also allein wegen dem lohnt es sich auch schon. (lacht) (42)

Autor

Die Novelle „Die Selbstverbrennung“ von Hartmut Lange spielt zwar nicht direkt im Oderbruch, sondern in einer Region Nahe eines anderen Grenzflusses, der Elbe. Es geht darin aber um die Frustration und den Glaubenszweifel eines Pfarrers im Osten Deutschlands, das ganze entstand vor dem Hintergrund eines tatsächlichen Suizids, der damals das geteilte Land erschütterte: die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz im Jahr 1976. Im Text kommt diese Selbstverbrennung zwar nicht direkt vor, sagt Katja Lehnert, aber (26)

Take 3 Lehnert

Da sind Motive, auch biographische Motive aufgenommen, die sind (…) parallel zu dem Werdegang von dem Pfarrer Brüsewitz. Und dieses Geschehnis, diese Selbstverbrennung, die tatsächlich passiert ist, die geistert so im Hintergrund herum. Also die Leute erfahren davon als Nachricht, das war ja eine schockierende Nachricht damals, und reagieren eben ganz unterschiedlich darauf. (25)

Autor

Die Novelle jedenfalls passt genau zu diesem Ort, davon sind Katja Lehnert und Hannes Langbein überzeugt. Und in diese Zeit, denn es geht in der Erzählung darum, wie verschieden Menschen auf ein und dasselber Ereignis reagieren. Es geht darin um Haltung – und darum, welche wir einnehmen. Auch andere sind begeistert von der Idee, die in Vergessenheit geratene Kirche auf diese Art und Weise wieder zu öffnen. (18)

Take 4 Lehnert

 Es hat sich auch sofort jemand aus der Kirchengemeinde gefunden, Frau Pehle nämlich, der wir sehr sehr dankbar sind, die wohnt hier ganz in der Nähe, die schließt hier jeden Tag auf früh um Zehn, und abends zur Dämmerung schließt sie wieder zu. Das macht sie die ganze Zeit, jeden Tag, weil sie sich einfach freut, dass Menschen in die Kirche kommen. Für sie ist das wichtig und auch für andere Leute aus dem Dorf. Schon dafür hat es sich gelohnt. (28)

Musik

Autor

Jeden Morgen um Zehn Uhr beginnt in der kleinen Holzkirche in Buschdorf im Oderbruch die Lesung der Novelle „Selbstverbrennung“ von Hartmut Lange. Der Bau ist aus Holz. Eine sogenannte Notkirche – gebaut als Provisorium für die zu DDR-Zeiten abgerissene Dorfkirche. Sie wird nun als Hörkirche genutzt. Eine Aufnahme wurde eigens für dieses Künstlerprojekt produziert und erzählt in knapp sechs Stunden von den Zweifeln eines Pfarrers in der DDR. Es liest der Schauspieler Sylvester Groth. (19)

Take 5 Ausschnitt aus Die Selbstverbrennung von Hartmut Lange, gelesen von Sylvester Groth

Das Gras zwischen den alten verwitterten Grabsteinen war längere Zeit nicht geschnitten worden. Es reichte dem Pfarrer Martin Wilhelm Koldehoff bis über die Knie. 

„Hier ruht in Gott unsere liebe Mutter Maria Schley, geborene …“ 

 

Der hagere Mann mit dem kurzen streng gescheitelten Haar – das Haar hielt dem Wind stand, es glänzte, der Pfarrer benutzte offenbar eine Salbe – der hagere Mann hielt ein Notizbuch in der Hand und notierte mit einem daumenlangen Bleistift die Namen der Toten. 

 

„Hier ruht in Gott unsere liebe Mutter …“  

 

Es war Herbst. Die Blätter der Linden verfärbten sich. Ihr helles fleckiges Gelb glänzte vor Nässe. Es hatte die Nacht über geregnet, und die Straße war übersät mit Wasserlachen, in denen sich der Himmel spiegelte. Aber bis gegen Nachmittag würde der Wind, falls er anhielt, alles wieder trockenfegen. Dies war jedenfalls die Ansicht eines jungen Mannes, der in dem Gasthaus der kleinen Ortschaft am Fenster saß und dem Pfarrer bei seiner merkwürdigen Tätigkeit zusah.

(1‘14)

Autor

Der junge Mann in der Geschichte heißt Sempert und ist fasziniert von dem streitbaren Pastor und seiner Familie – auch weil seine eigene Lebenswelt und Ansichten eher linientreu sozialistisch geprägt sind. Mit diesem Spannungsfeld passt die Novelle gut in die schmucklose Holzbaracke, die die Notkirche Buschdorf nun einmal ist: ein sozialistischer Zweckbau. Die Zwänge und Konflikte der Nachkriegszeit sind bis heute hier spürbar. Ein Besuch in der Kirche ist herausfordernd – sowohl für die Augen als auch für Ohren, sagt Pfarrer Hannes Langbein von der Kulturstiftung St. Matthäus, die das Projekt finanziert und ermöglicht hat. (30)

Take 6 Langbein

Harter Tobak in Richtung der Geschichte, die erzählt wird. Eben von diesem Pfarrer Koldehoff, der (…) seinen Glauben verloren hat, und eigentlich dann nachts immer so mit dem Fernrohr auf dem Dach in Richtung Sterne schaut und guckt, ob da irgendwas ist. Und eben diesem Philosophen Sempert, der dort landet und ein (…) Traktat schreiben will. Das sind alles Menschen die so mit sich und der Welt ringen. Das ist kein fröhlicher Text. Aber darum eben auch sehr anrührend, eben auch genau dann, wenn man da in dieser einsamen Kirche sitzt und hört. (40)

Autor

Die Lesung der „Selbstverbrennung“ dauert insgesamt 6 Stunden. So lange bleiben die wenigsten Besucher in der Kirche. Manche kommen dafür regelmäßig wieder und hören sich Kapitel für Kapitel voran. Um einen Eindruck der einzigartigen Atmosphäre in der Hörkirche Buschdorf zu bekommen reicht es aber, auch nur einen Teil der Geschichte vor Ort zu hören, so Hannes Langbein. (20)

Take 7 Langbein

Also in einer Kirche zu sitzen, die voll eingerichtet ist, also mit Kirchenbänken und Altar und Kanzel und allem, was dazu gehört und Kreuz. Aber man spürt diese Leere in diesem Raum. Und das ist schon berührend, dort in dieser leeren Kirche von diesem Pfarrer zu hören, der ja seinen Glauben verloren hat und eigentlich auf der Suche ist. Das hat schon einen ganz eigenen Zauber, auch in den Fragmenten. Da reicht auch mal nur so ein Stück zu hören. (33)

Autor

Trotzdem lohnt es sich, den Text von Hartmut Lange auch im Ganzen wahrzunehmen, empfiehlt Katja Lehnert. Weil die Fragen und Probleme der handelnden Personen in der Novelle gerade heute hochaktuell sind. (12)

Take 8 Lehnert

In der Geschichte ist wenig bis kein Trost muss man sagen. Und trotzdem ist sie tröstlich. (…) Das ist ein Widerspruch, ja, aber (...) oft ist es ja so, dass sehr traurige Geschichten (…) trotzdem einen Trost zu bieten haben. (…) Da bleibt was. Wenn man das eben gelesen hat oder hier auch gehört hat, es arbeitet weiter in einem, es hakt sich regelrecht fest. Das ist deswegen wirklich große Literatur. Da können wir nur jedem empfehlen, sich das entweder hier anzuhören oder auch selbst zu lesen. (35)

 

Musik

Autor

Im kleinen Ort Buschdorf im Oderbruch steht eine ursprünglich als Provisorium errichtete Notkirche aus der frühen Nachkriegszeit. Gottesdienste finden hier leider keine mehr statt. Doch offen ist die Kirche trotzdem für alle, die vorbeikommen -als Hörkirche. Jeden Tag erklingt hier die Lesung der Novelle „Selbstverbrennung“ von Hartmut Lange. Die Geschichte über einen Pfarrer in der DDR, der an seinem Glauben zweifelt.. Ein Pfarrer in Not – sozusagen. Ein bisschen beschreibt das auch die Lage der Kirche heute, sagt Initiatorin Katja Lehnert. (30)

Take 9 Lehnert

Darauf spielt ja auch der Titel des Projekts, also Notkirche Buschdorf, an. Das ist hier die Notkirche gewesen, die wurde damals als Ersatz- beziehungsweise Notkirche errichtet, und heute ist diese Kirche ja irgendwie selber in Not. Sie ist nämlich verwaist. Sie verkümmert, sie wird nicht mehr gebraucht. Also wird sie es wirklich nicht mehr? Es sieht jedenfalls so aus. (…) Und dieser Pfarrer Koldehoff ist auch in Not, also der hat seinen Glauben verloren. Und das ist eigentlich der Zusammenhang, den wir da vor allem gesehen haben. (31)

Autor

Die ganz einfach gehaltene Holzbaracke unterstreicht die Stimmung der Geschichte, findet Katja Lehnert. Vor allem, wenn man sie nicht nur liest, sondern hört: (13)

Take 10 Lehnert

Das bringt eben der Sylvester Groth zustande durch die Art, wie er es liest. Also da schwingen dann auf einmal noch so viele Dinge mit, die man beim Selber lesen (…) quasi überliest. Oder die gar nicht erst auftauchen. Also das wirkt hier noch einmal viel viel intensiver. (22)

Autor

Das Projekt Notkirche Buschdorf lebt von der besonderen Situation und Geschichte eines ungewöhnlichen Kirchengebäudes. Der Ort ist einzigartig, doch er könnte Anregung sein für andere Kirchen und Gemeinden, meint Pfarrer Hannes Langbein. (15)

Take 11 Langbein

Es ist grundsätzlich, auch unabhängig von der Notkirche, eine gute Idee, darüber nachzudenken, wie man mit geschlossenen Kirchen umgeht, wenn sie nicht mehr für Gottesdienste vor allem genutzt werden können. Und jetzt hat unsere Erfahrung gezeigt, dass es manchmal recht einfach eigentlich geht, so einen Raum wieder zu öffnen und zu beleben. Ganz ohne dass es viele Menschen braucht. Also das lässt sich natürlich überlegen, ob sich das an anderen Orten auch fortsetzen lässt. Möglicherweise auch mit anderen Texten, also das schwingt auch mit bei diesem Projekt.  (37)

Autor

Noch bis zum 13. Oktober ist die Notkirche Buschdorf täglich geöffnet. Was danach wird, bleibt offen. Katja Lehnert hofft, dass manche Menschen in Buschdorf „ihre Kirche“ jetzt noch einmal neu für sich entdeckt haben und der Ort auch weiter eine Zukunft hat. Positive Resonanz auf das Projekt Hörkirche gab und gibt es in jedem Fall – in persönlichen Gesprächen, aber vor allem auch als Grüße im Gästebuch. (26)

Take 12 Lehnert

Wir bekommen ja nicht mit, wer hier ist. Das ist ja auch das Spannende. Manchmal wenn 

wir hier vorbeifahren, dann ist das ein ganz eigentümliches Gefühl, wenn man dann ein Auto stehen sieht, oder ein Fahrrad und man weiß, da drinnen spricht jetzt Sylvester Groth und es hört ihm jemand zu. Und wenn man dann ab und zu eine neue Eintragung im Gästebuch sieht, und die sind durchweg begeistert, das macht uns natürlich sehr glücklich. (30)

 

Musik