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Jesus ist tot. Eine Glasscheibe zerspringt, auf einen Knall folgt Stille. Drei Minuten lang ist nichts zu hören – die Kirche schweigt. In der Mitte des Raumes brennt ein Kreuz. Angezündet von Dutzenden Kerzen der Hoffnung.
„16. - Aufschrei“
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Was wie eine skurrile Szene aus einem Film klingt, erlebe ich live in der Kirche Heilige Familie in Rüdersdorf bei Berlin. Hier besuche ich den multimedialen Kreuzweg “Sounds of Passion” der katholischen Band “gaudete!”. “Freut euch!”, so heißt der Bandname übersetzt. Dass der Name an diesem Abend Programm ist, kann ich nur schwer behaupten, dafür ist das Thema zu bedrückend.
Als ich die Kirche betrete, bekomme ich als erstes ein Teelicht in die Hand gedrückt. Ich bräuchte es noch für später.
Ich schaue mich um:
Durch die Fenster der Kirche scheint noch die Abendsonne. Ihre rot-goldenen Strahlen werden durch Farbscheinwerfer im Raum unterstützt. Trotz der vielen Menschen, die schon in den Bänken Platz genommen haben, wirkt alles sehr ruhig.
Geradezu plakativ zerreißt eine große graue Leinwand den Altarraum. Sie versperrt vollkommen die Sicht auf die Stelle, wo sonst das Kreuz zu sehen wäre. Komisch – gerade, wo es genau darum heute Abend gehen soll.
„Introitus - Ich steh vor dir (Choral)“
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Um besser zu verstehen, was mich heute Abend hier erwartet, habe ich mich vorher mit Sebastian Aehlig unterhalten. Er ist der musikalische Leiter der Band “gaudete!” und hat diesen Kreuzweg mit konzipiert. Laut ihm geht es bei dem Projekt vor allem um Folgendes:
Sebastian Aehlig:
Großes Ziel war sozusagen, eigentlich Kreuzweg ein bisschen größer zu denken, auch emotionaler zu denken, dass die Leute am Ende rausgehen mit einer neuen Erfahrung und wie geflashed sind, total entweder voller Hoffnung oder voll erschlagen von dem, was sie gehört haben. Deswegen ist die Musik und die Texte auch teilweise sehr extrem.
Autor:
Extrem ist auch die Geschichte, die der Kreuzweg erzählt. Es geht um den Leidensweg Jesu Christi – von seiner Verurteilung zum Tode bis hin zu seinem Sterben. Eigentlich eine Geschichte, die heutzutage den meisten von uns sehr fern zu sein scheint, so könnte man denken. Höchstens nur noch in der Kirche relevant, aber eigentlich längst vergessen.
Aber ist dem so? Können wir nicht genau dieses konkrete Beispiel auch auf unseren Alltag beziehen?
Thomas Gerlach, Keyboarder bei “gaudete!” und ebenfalls Mitentwickler von “Sounds of Passion” beschreibt es so:
Also während des ganzen Kreuzwegs auch die Möglichkeit, sich hinein zu versenken und einfach in sich selber auch zu spüren, was macht das jetzt mit mir? Moment mal, welche Themen sind da in mir drin, die jetzt hier so angesprochen werden und auch nach vorne kommen können? Dann auch die Verbundenheit mit der Gemeinschaft durch das gemeinsame Singen und auch das nach vorne bringen der persönlichen Bitte in dem Ritual, dass die Kerze eben nach vorne getragen wird und am Ende dann ein ganz eigenes großes Kreuz entsteht(...)
Und dann natürlich noch eine Vertiefung des Gottesglaubens.
Autor:
Ich sitze ziemlich weit hinten in der Kirche. Von hier aus kann ich das Geschehen gut beobachten.
Die Stille wird nun von atmosphärischer Musik aufgelöst.
Hinter mir höre ich, wie sich das Kirchenportal öffnet. Kurze Zeit später wird ein großes Holzkreuz von drei Bandmitgliedern durch den Mittelgang getragen und zwischen den Bankreihen abgelegt. Die Prozession endet; der Kreuzweg beginnt.
„Introitus - Ich steh vor dir (Musik)“
Autor:
Die graue Leinwand wird nun von bunten Bildern geschmückt. Darauf zu sehen sind abstrakte Varianten der klassischen 14 Stationen des Kreuzweges. Rot-blaue Wellen, die sich ineinanderschlingen; ein blutroter Himmel, der fast wie Feuer ein schwarzes Kreuz umreißt; zwei Personen, die vor einem Abgrund stehen; schwarze, wie Menschenüberreste wirkende Gestalten, die einer lichtdurchbrochenen Wolke entgegenschauen.
Untermalt wird das alles von sogenannten “Bildbetrachtungen” - Texten, von Bandmitgliedern vorgetragen.
Sebastian Aehlig:
Wir haben ganz expressive Bilder als Eyecatcher sozusagen.(...) Dann versuchen wir den Raum zu gestalten. Also die Musiker an sich sind so unbedeutsam, die sind nicht unbedingt sehr stark sichtbar in diesem Jahr hinter der Leinwand, den Raum farblich zu gestalten. Später kommen die Leute dazu mit ihren Kreuzaktionen aus einem einfachen, großen Holzkreuz, ein leuchtendes Kreuz. Dieses Kreuz ist diesmal im Raum positioniert und nicht direkt vorn am Altar, sodass wir den ganzen Raum nutzen. Wir versuchen den Raum in verschiedenfarbiges Licht zu gestalten, das sozusagen ganz zeitlich der Kirchraum verändert wird und für dieses Projekt genutzt wird.
Das Besondere an Sounds of Passion ist, (...) das ist nicht nur eine Geschichte, das sind nicht nur Klänge, (...) es ist ganzheitlich gedacht und von Extrem, von Extremklängen, von extremer Sprache, bis von ganz schöner, lieblicher Musik, auch einfachen Worten.
Wir versuchen auch Geräusche mit uns, Instrumenten zu machen und Rhythmen, also gehen über die klassische Musik hinaus.
Und diese Extreme, diese Weite von Gefühlen, diese Weite von schwierigen leichten Texts, von Bildern, Emotionen, also das kann richtig explodieren und abstößig sein und trotzdem wieder einholen und dieses Extreme haben wir versucht zu bündeln und nochmal zu schärfen und das stellt, glaube ich, meines Erachtens das Besondere dar.
Sebastian Aehlig:
Nun ist ein blau-weißes Bild zu sehen. Wie Eis wirken die spitzen Elemente darauf. Kalt und klirrend.
Die Musik wird wirr und schief. Es wird durcheinandergesprochen. Melodien werden zu Geräuschen. Schrille Klänge durchschneiden den Raum. Es ist die Todesszene.
„19. - Klangcollage (Musik)“
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Drei Minuten lang schweigt der Raum. Nichts ist zu hören. Der Raum ist dunkel, alle Lichter aus. Alle sind wie eingefroren, jeder ist in sich gekehrt.
„22. - Meine Hoffnung und meine Freude (Musik)“
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Ein Bandmitglied löst die Stille. Er geht zu dem Kreuz in der Mitte des Raumes und entzündet sein Teelicht. Nach und nach folgen ihm die Menschen aus den Bankreihen. Auch ich bringe meine Kerze dorthin.
Der Raum füllt sich nun langsam wieder mit Licht. Draußen ist es inzwischen dunkel, doch hier drinnen wird es immer heller.
Als ich mich wieder zurück in meine Bank setzte, fällt mein Blick nach vorne auf die große Leinwand.
“Für meine Eltern.” “Bitte mach, dass meine Oma wieder gesund wird.”
“Für Weltfrieden.” “Ich bitte für alle Kranken.”
Und da ist er dann doch noch: Der Bezug zu uns selbst, zu heute. Plötzlich ist der Kreuzweg wieder ganz aktuell, plötzlich betrifft er jeden von uns. Plötzlich ist Jesu Sterben wieder Alltag.
Über einen QR-Code haben wir die Möglichkeit unsere eigene Bitte sichtbar zu machen.
„6. - God so loved the world (Musik)“
Es war so ergreifend. Die Texte haben mir prima gefallen. Die Artikulationen, es war einfach wunderbar. (...) Man kann nur hoffen, dass viele sich davon ergreifen lassen.
Das Kreuz, was mitten in der Kirche lag und dass alle sich ergreifen ließen. Jeder stand auf und brachte seine Kerze dorthin, wo sie nirgide, nämlich unter das Kreuz.
Im Grunde genommen absolut traumhaft muss man hier sehen haben. Und wenn man, so wie ich bin im Grunde genommen ziemlich dicht am Wasser hier baut, ist es auch sehr emotional, muss ich ganz ehrlich sagen. Eine tolle Erfahrung für mich würde ich immer wieder hingehen, immer wieder toll.
Autor:
Nach 70 Minuten ist alles vorbei. Nach und nach leert sich die Kirche wieder. Als ich draußen auf dem Kirchvorplatz warte, könnten die Reaktionen der mir entgegenkommenden Menschen nicht unterschiedlicher sein.
Manche weinen. Viele sind in sich gekehrt und verlassen wortlos das Gelände. Einige wenige haben die Kraft, ein neutrales, teilweise gar fröhliches Gesicht aufzusetzen. Wieder anderen sieht man an, dass ihnen das gerade Erlebte gar nicht gefallen hat.
Vielleicht, so denke ich mir, ist es genau das, was den Kreuzweg so in unsere Zeit bringt. Eben kein “Happy End”, sondern eine Erfahrung, die jeder anders für sich verarbeitet. Eine Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen eben.
Sebastian Aehlig:
Der Kreuzweg oder die Passion ist aus meiner Sicht eine ganz spannende Geschichte.(...) Und wir versuchen an gewissen Punkten diese Spannung weiterzugeben und das kann jeder entweder mit diesen spannenden Bildern, die expressiven oder mit ganz emotionalen Momenten in der Musik oder im Text oder einfach nur mit der Kerze oder mit der Bitte, die er weiter gibt, kann jeder sich daran teilnehmen und daraus etwas mit nach Hause nehmen. Meistens sind die Leute sehr beeindruckt von irgendwelchen extremen Sachen und das ist der Anspruch oder das wollen wir weitergeben, dass die Leute irgendwas aus dieser alten Geschichte, die total dramatisch und gewalttätig ist, was mitnehmen und vielleicht fürs ihr Leben auch mitnehmen, weil letztendlich steht nicht der Tod Jesu im Fokus, sondern die Hoffnung und die Auferstehung. Und das machen wir dann mit dem leuchtenden Kreuz, mit diesem lichterbrennenden Kreuz, was zum Schluss auch liegen bleibt, und alle gehen nach Hause, deutlich.
„26. - Ich steh vor dir (Choral)“