Autorin:
Liquorunterdrucksyndrom – ein komplizierter Name für eine ganz üble Krankheit, ein Unterdruck im Gehirn, verbunden mit höllischen Kopfschmerzen. Wen die Krankheit erwischt, der kann nur noch eins: liegen, praktisch den ganzen Tag. Die Berliner Autorin und Journalistin Anne Hansen ist Ende 30, als sie ein Liquourunterdrucksyndrom ereilt. Die Nordfriesin und ihr Mann beschließen: Liegen kann man auch außerhalb vom lauten Berlin. Also zurück in die Heimat, an die Nordsee.
Anne Hansen:
Hier hat mein Mann mich dann - damit ich wieder zu Kräften komme - jeden Tag zu einem Spaziergang am Deich gezwungen. Und da wurden gerade die Lämmer geboren. Und normalerweise laufen ja Schafe und auch Lämmer immer weg. Also, ich bin ja damit groß geworden und ich hatte bis dato noch nie ein Schaf oder ein Lamm gestreichelt, und wir kamen aber da an den Deich und da kam ein Lamm auf uns zu, so ganz neugierig. Ließ sich streicheln. Wir dachten erst, wir sind im komplett falschen Film, wie gesagt, das kommt eigentlich nicht vor.
Autorin:
Dieses ungewöhnliche Lamm wieder zu sehen, reißt sie jeden Tag vom Sofa hoch. Egal, wie schlecht es ihr geht. Schon nach ein paar Tagen wird Anne jeden Tag am Deich erwartet. Und schnell entwickelt das Lamm eine putzige Gewohnheit: Es schläft auf Annes Schoß ein. Nach und nach werden auch die anderen Schafe neugierig. Stellen sich sozusagen einzeln vor.
Anne Hansen:
Also, was ich bis dato noch nicht wusste, dass wirklich Schafe solche Individuen sind, also je mehr ich die kennengelernt haben, taten sich wirklich ganz neue Welten auf für mich, weil ich gelernt hab, okay, es gibt irgendwie superschlaue, es gibt doofe, es gibt lustige, es gibt total humorbefreite, also im Prinzip so die ganz Bandbreite menschlicher Charaktere tat sich da für mich auf, und das habe ich auf jeden Fall unterschätzt, weil Schafe natürlich alle gleich aussehen.
Autorin:
Eben nicht! Und so bekommt jedes Schaf bald auch einen passenden Namen. Gabriele Krone-Schmalz, wie die Fernsehjournalistin mit der Herzfrisur – doch, die Ähnlichkeit sei einfach verblüffend, schwört Anne. Oder Mister Sunshine, mit seinem sonnengelblichen Fell. Oder Old Shatterhand mit seinem kostümartig gefleckten Pelz. Annes besonderer Liebling bleibt das allererste Lamm, ihr „Buddha vom Deich“, wie sie ihn auch nennt.
Anne Hansen:
Der ruht wirklich in sich, also nichts bringt ihn aus der Ruhe, der ist einfach mit sich und seiner Welt komplett zufrieden. Jetzt könnte man sagen, ja, welches Schaf ist das nicht, aber da gibt es auf jeden Fall andere Kandidaten, die gehen so ein bisschen griesgrämig durchs Leben tatsächlich. Und Lämmchen ist einfach zufrieden, der ist immer gleichbleibend, deswegen haben wir den „Buddha vom Deich“ genannt, weil der ist ja tiefenentspannt. Es ist erstaunlich mit ihm.
Autorin:
Von all diesen Schafcharakteren schreibt Anne Hansen in ihrem Buch: „Und dann kam Lämmchen – Hinfallen, aufstehen, weitergrasen“. Es ist die Geschichte einer Heilung. Ja, manchmal sogar die einer spirituellen Reise, durch die völlig unverhoffte Freundschaft mit einem Tier. Und nicht selten einfach urkomisch.
Musik: Gone Country (Alan Jackson)
Autorin:
Schafe sind äußerst schlau, sagt die Nordfriesin Anne Hansen. Sie können sich 50 verschiedene Gesichter ihrer Artgenossen über zwei Jahre lang merken, wie wissenschaftliche Studien ergeben haben. Das kann kaum ein Tier sonst. Schafe können sogar die Gesichter von Menschen auseinanderhalten. Oder sich bei Krankheiten buchstäblich gesund fressen. Weil sie dann exakt die Pflanzen oder Kräuter fressen, die sie brauchen. Anne merkt, dass die tägliche Zeit mit den Schafen ihr eine tiefe Ruhe und Entspannung schenkt. Und die evangelische Christin lernt von den Schafen sogar fürs Leben.
Anne Hansen:
Also, was auf jeden Fall eine wichtige Erkenntnis ist, so die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind. Also, Schafe leben ja auch komplett im Moment. Und ich glaube da kann man sich ne Menge von abschneiden, von dieser Fähigkeit. Also, ich hab auch gemerkt, es bringt nichts, immer zurückzugucken, mit Dingen zu hadern oder auch in der Zukunft zu leben, wie könnte es sein, was kommt noch. Sondern, dass man einfach wirklich die Dinge nimmt, wie sie sind, so diese radikale Akzeptanz, ich glaube, das ist was, was ich auf jeden Fall von den Schafen gelernt habe.
Autorin:
Manchmal ist der Blick auf die Schafe sogar fast wie ein Blick in den Spiegel…
Anne Hansen:
…dass sowohl Schafe als auch Menschen, den Fehler machen zu glauben, das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite (Lachen). Also wir denken das ja auch oft, Mensch, der andere hat ein viel schöneres Leben oder man will immer das haben, was man selber nicht hat. Und Schafe haben dies leider auch anscheinend, weil die quetschen wirklich regelmäßig ihren Kopf durch den Zaun, um genau das gleiche Gras auf der anderen Seite zu fressen. Das ist also urkomisch und absurd natürlich… (Lachen)
Autorin:
Ziemlich schnell wird Anne in die gesamte Schafclique aufgenommen, erzählt sie, fast ein bisschen stolz. Die Tiere holen sie zurück ins Leben, Schritt für Schritt. Das liegt auch an den Bindungshormonen durch das viele Streicheln. Die Schafe stehen regelrecht Schlange, wollen ausführlich gekrault werden. Und es liegt daran, dass sie bei ihren neuen Freunden und Freundinnen nichts darstellen muss.
Anne Hansen:
Ja, das ist ja generell mit Tieren so, also die nehmen einen ja so wie man ist. Also die urteilen nicht ab. Oder haben irgendwelche Erwartungen, sondern die nehmen einen wirklich so an wie man ist, und man kann sich fallen lassen und wirklich auch so sein, wie man ist, und das hat auf jeden Fall eine Heilkraft.
Autorin:
Und noch etwas passiert: Anne fängt an, das Leben wieder richtig zu spüren. Das wahre, das echte Leben. Der Moment ist so intensiv und kostbar wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Die Seele - ganz im Hier und Jetzt. Sogar das Handy wird immer unwichtiger.
Anne Hansen:
Ja, am Anfang war ich total betrübt, dass ich so viel nicht fotografiert habe oder auf Video habe. Aber ich habe es halt abgespeichert und in dem Moment habe ich den Momentan viel doller wahrgenommen, weil ich eben nicht das Handy in der Hand hatte und nicht gleich überlegt habe, Mensch, wo kannst du das denn jetzt posten, sondern ich war wirklich im Moment und ja hab es auf meiner internen Festplatte abgespeichert.
Musik: Mo Ghile Mear – Our Hero
Autorin:
Mit Wildtieren ein Stück leben teilen. Und dabei das Leben ganz neu spüren – das geht nicht nur auf dem Deich, sondern in Brandenburg sogar praktisch vor der Haustür. Zum Beispiel in Liebenthal, Oberhavel. Hier lebt eine Herde von rund 100 Wildpferden in der freien Natur, auf einer Fläche so groß wie 100 Fußballfelder. Ein Rundweg für Fußgänger führt durch Wald und Weiden. Anne Hansen war hier oft zu Gast, noch zu ihrer Berliner Zeit.
Anne Hansen:
Da kann man einfach spazieren und eine Zeit lang sind wir sehr, sehr oft rausgefahren, mein Mann und ich, und man läuft da durch und wenn die Tiere Lust haben, dann nähern sie sich einem.
Autorin:
Die Tiere entscheiden völlig selbständig, mit dem Menschen in Kontakt zu treten, ganz anders als Haustiere. Manchmal grasen sie ganz entspannt in seiner Nähe, manchmal schnuppern sie neugierig an den Menschen herum oder gucken sie sich intensiv an. Aber nur, wenn der Mensch sich an die Pferde anpasst, so dass die Tiere sich wohlfühlen.
Anne Hansen:
Wir haben uns ja meistens dann auch irgendwie auf so einen Baumstamm gesetzt und die Wildpferde um einen herum, das war immer ganz besonders. Also, ganz oft sieht man sie auch nicht, manchmal hört man sie nur galoppieren in der Ferne, also, das ist immer auch sehr aufregend, wo ist jetzt die Herde, aber es gibt eben die Momente, da wird die Herde auf einen aufmerksam oder auch nur ein paar Pferde, und dann kommen sie tatsächlich zu einem und das ist eben ein magischer Moment, wenn plötzlich so ein Wildpferd auf einen zukommt und beschließt, Mensch, diesen Menschen gucke ich mir mal genauer an, weil das ist eben… ja, wahrscheinlich ist der Reiz auch da, das ist ein Wildpferd, das ist kein Haustier, das irgendwie Futter von mir bekommt und deswegen in einer Art Abhängigkeit ist, sondern da geht es wirklich um so eigenständige Lebewesen. Und ich glaube, das macht den Reiz aus.
Musik: Alegría (Cirque du Soleil)
Autorin:
Tiere haben eine ganz eigene spirituelle Kraft – Wildtiere wie Schafe oder Pferde. Aber auch unsere Haustiere, ob Hund, Katze oder unsere Nager. Wenn wir es wollen, können sie uns eine Art Lehrmeister sein. Sie zeigen uns Dimensionen im Leben, die wir sonst kaum wahrnehmen können. So können wir die Welt umfassender erleben. Und freier, wilder! Denn wenn wir uns ganz auf ein Tier einlassen, spüren wir häufig auch den Anteil Tier in uns selbst. Manchmal erahnen wir dann sogar eine höhere Welt um uns herum. Eine Welt jenseits der für uns fassbaren. Anne Hansen ist auf dem nordfriesischen Deich bei den Schafen wieder gesund geworden. Und manchmal hat tatsächlich Begegnungen der anderen Art, mit ihrem Schafbock „Lämmchen“.
Anne Hansen:
Also, ich hab mit Lämmchen tatsächlich manchmal so… ja, vielleicht könnte man so spirituelle Momente nennen, dann guckt er mich auf eine ganz besondere Art und Weise an. Also, das passiert auch nicht oft, aber es gibt eben diese Momente, da weiß ich schon immer, da kommt jetzt was. Da schlägt er erst so die Augen nieder und macht sie dann wieder auf und durchdringt einen wirklich mit seinem Blick…. Und da hab ich so das Gefühl, dass er wirklich in die Seele reinschaut, also das ist wirklich ein ganz besonderer Moment, glaube ich, für uns beide, also, für ihn glaube ich auch. Man hat das Gefühl, ja, er erkennt einen in dem Moment richtig so in meiner ganzen Breite, meinen Charaktereigenschaften, sieht so richtig hin, also das ist immer ganz faszinierend.
Musik: Alegría (Cirque du Soleil)
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Buchhinweis:
Anne Hansen „Und dann kam Lämmchen. Hinfallen, aufstehen, weitergrasen: Wie mir ein kleines Schaf ganz große Dinge beibrachte“