26.12
2024
08:40
Uhr

White Christmas

Die sagenhafte Lebensgeschichte des russischen Juden, der das bestverkaufte Weihnachtslieder aller Zeiten komponierte

Ein Beitrag von Elena Griepentrog

Autorin: White Christmas, weiße Weihnachten. Der Inbegriff des amerikanischen Weihnachtsliedes, gesungen vom Inbegriff des guten Amerikaners, dem Schauspieler und Sänger Bing Crosby. Dieser Song ist nicht irgendein Weihnachtslied, sondern ein halbes Jahrhundert lang die meistverkaufte Single aller Zeiten, ein gigantischer Hit!  Hinter der wundervoll kitschigen Weihnachtsidylle steckt jedoch eine ganz andere Geschichte: die traurige Lebensgeschichte seines Komponisten Irving Berlin. 

Diese Geschichte beginnt weit entfernt von den USA, in der trostlosen Stadt Tjumen in Sibirien. Hier kommt im Mai1888 ein kleiner Junge auf die Welt, der Sohn des angesehenen jüdisch-orthodoxen Kantors Moses Baline und seiner Frau Lea. Sie nennen ihren Sohn Israel. In Sibirien ist Weihnachten immer weiß - aber die Erinnerung an Sibirien ist für Juden oft alles andere als ein schöner Traum. Viel später wird Israel sagen. Ich habe nur diese eine Erinnerung an meine ersten fünf Lebensjahre in Russland: Ich liege zusammengekauert unter einer Decke neben der Straße. Und mein Elternhaus brennt vor meinen Augen bis auf den Grund ab. Judenfeindliche russische Nachbarn haben es angezündet, noch dazu wohl an einem Weihnachtstag.

Der Gewaltausbruch gegen Juden ist kein Einzelfall im Russland des späten 19. Jahrhunderts. So macht sich die ganze Familie Baline per Schiff auf in ein anderes Leben, auf in die Vereinigten Staaten. Voller Hoffnung auf ein friedliches Leben und etwas Wohlstand. Sie landen in New York, im überfüllten Einwandererghetto Lower East Side. Ein Leben voller Armut. Doch immerhin: Israel findet gute Freunde, so Michelle Marly, Autorin des gut recherchierten Romans „White Christmas“.

O-Ton Marly: Er ist der Sohn eines jüdischen Kantors, also richtig auch mit dem Leben der Synagoge aufgewachsen und eher streng erzogen worden. Aber er hatte in New York irische Freunde, und die waren natürlich katholisch. Und dort lernte er schon als Kind das Weihnachtsfest kennen. Und fand das also wahnsinnig spannend, mit dem Baum und den Lichtern und die Lieder, die gesungen wurden, das fand er schön. Und wie das in dieser irischen Familie zelebriert wurde, das gefiel ihm.

Autorin: Doch die Dramen reißen nicht ab. Schon mit acht Jahren muss Israel Zeitungen austragen, geht kaum zur Schule. Als er 13 ist, stirbt sein Vater. Kurz darauf verlässt Israel die Familie und schlägt sich fortan als Kellner und Straßensänger durch. In halbseidenen Eckkneipen bringt er sich selbst das Klavierspielen bei. Beim Kellnern singt er gern. So fordert ihn sein Chef auf, einen eigenen Song für das Café zu komponieren. Ohne Noten, denn die kann Israel nicht lesen. Der Song wird veröffentlicht und bringt ihm gerade 37 Cent ein. Und doch: Genau hier beginnt es, im Pelham’s Café: Aus dem orthodoxen russischen Juden Israel Baline wird der amerikanische Hitkomponist Irving Berlin. Auch sein orthodoxes Judentum legt er ab. Und er liebt Weihnachten – obwohl es ja ein Hauptfest der Christen ist. 

O-Ton Marly: Er hatte ein tolles Verhältnis, er fand Weihnachten toll, er hat auch Weihnachten gefeiert, also richtig im christlichen Sinne gefeiert.

Autorin: Irving selbst bleibt Jude. Das erinnert ein bisschen an Jesus von Nazareth, seine Geburt feiern Christen heute überall auf der Welt. Auch Jesus ist kein Christ, sondern Jude und bleibt Jude, sogar ein jüdischer Rabbiner. War Irving einfach seine Herkunft wichtig? Oder war er doch gläubiger Jude? Autorin Michelle Marly hat eine andere Theorie.

O-Ton Marly: Ich glaube, dass Irving Berlin insgesamt ein Mensch war, der sehr großzügig in seinen Gedanken war und sehr vielfältig und für sich selber durchaus vorstellen konnte, die Religionen irgendwie zu vermischen, daraus irgendwie ein großes Ganzes zu machen.

Musik

Autorin: Irving Berlin wird ein weltberühmter Komponist. Ein rastloses Energiebündel, pedantisch soll er auch sein. Vor allem aber wahnsinnig erfolgreich. Einen Top-Hit nach dem anderen komponiert er, insgesamt über 400. „There’s no business like showbusiness“, „Puttin’ on the ritz“ oder „God bless America“, Gott segne Amerika. Wie viele eingewanderte Osteuropäer ist auch Berlin ein begeisterter amerikanischer Patriot und jedes Lied für ihn auch ein Dienst am Vaterland.

Privat allerdings reißen die Schicksalsschläge nicht ab. Irvings erste Frau stirbt, nur sechs Monate nach der Hochzeit. Er heiratet wieder, Ellin Mackay, eine irisch-stämmige Katholikin. Doch 1928, ausgerechnet an einem Weihnachtsfest

O-Ton Marly: Er war ja nun schon Vater einer Tochter und hatte dann einen Sohn bekommen, einen Stammhalter, und dieses Kind wurde am Morgen des 25. Dezember von dem Kindermädchen tot im Bett aufgefunden. Man hat es damals als Herzinfarkt, Herzversagen bezeichnet, man würde heute von dem Begriff „plötzlicher Kindstod“ ausgehen.

Autorin: Irving jun. ist gerade einmal drei Wochen alt, als er so überraschend stirbt. Von nun an liegt ein Schatten über der Familie. Und über dem einst so geliebten Weihnachtsfest.

O-Ton Marly: Er behielt es für die Kinder. Er hat ja dann noch zwei Töchter bekommen nach diesem Schicksalsschlag, er hatte ja schon eine große Tochter. Und es ist ganz deutlich in dem Buch, das eben die älteste Tochter über ihren Vater geschrieben hat, dass die Eltern das Weihnachtsfest zelebrierten eigentlich für die Kinder, also für die Töchter. Und daran festhielten. Und dass es eben selbstverständlich war am 25. für die Eltern, dann eben auf den Friedhof zu gehen. Die Mädchen haben das erst sehr, sehr spät erfahren, zufällig, weil Mary Ellin, also die älteste, einen Zeitungsausschnitt in irgendeiner Schublade fand, in dem eben über diese Tragödie berichtet wurde.  

Autorin: Weihnachten bleibt ein seltsamer Schicksalstag für Irving Berlin, auch im Guten: Denn 1940 gelingt ihm der Song, den er selbst als seinen besten Song bezeichnet: White Christmas – dieamerikanische Weihnachtshymne. 

Musik

Autorin: Entstanden ist White Christmas nicht irgendwo in der winterlichen Natur, sondern in einem Hotelzimmer in Los Angeles, bei rund 25 Grad. Irving arbeitet hier unter der warmen Sonne Kaliforniens gerade an einer Revue. Doch er sehnt sich nach seiner Familie, nach dem kalten New York, nach dem, wie er Weihnachten eben kennt. 

O-Ton Marly: Es ist die Sehnsucht eines Mannes nach der der weißen Weihnacht. Und im Vortext ist es auch ganz klar, also hier sind Palmen, die Wiesen sind grün, die Sonne scheint, alles ist bunt, aber das ist eigentlich nicht so das, was ich mir erträume, ich wünsche mir die weißen Weihnachten und den Lichterglanz und Mistelzweige und so was herbei.

Autorin: Kein Jesus-Kind, kein Ochs und Esel, keinen himmlischen Gesang der Engel. Sondern: Ein Mensch sehnt sich nach weißen Weihnachten. Und mit jeder Weihnachtskarte wünscht er dem Empfänger etwas melancholisch: Mögen deine Weihnachten immer weiß sein. Eigentlich ist White Christmas ein weihnachtlicher Schmachtfetzen, himmlisch-klebrig wie weiße Zuckerwatte Und tatsächlich: Ursprünglich sollte der Song eine leichtfüßige Parodie sein auf die Liebesschnulzen der Zeit. Doch es kommt ganz anders. Denn als „White Christmas“ 1942 auf den Markt kommt, sind die USA kurz zuvor in den zweiten Weltkrieg eingetreten.

O-Ton Marly: Letztlich ist es ein Kriegssong gewesen. Das Lied wurde unmittelbar nach dem Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg veröffentlicht, und wurde dann von den GIs letztlich nach Europa mitgebracht, die erste Aufnahme von Bing Crosby war für die GIs, ich will das böse Wort „Durchhalteschlager“ nicht benutzen, aber es war für die GIs ein Stück Erinnerung, Heimat, die eben Weihnachten hier in Europa saßen, und hier war alles ganz furchtbar. Das sind diese berühmten Lieder, die eben in Kriegszeiten die Menschen aufrichten. Und dazu gehörte auch White Christmas. 

Autorin: Für die heimwehkranken einfachen Soldaten wird White Christmas zum Symbol des sauberen guten amerikanischen Lebens, Schnee, Idylle, Landleben. Fortan träumen sie alle von weißen Weihnachten, egal ob aus dem kalten Norden, aus Californien, oder sogar aus der Karibik. Über die Wunschprogramme der Soldatensender, über die Jukeboxes in den Armeekasinos erobert der Song erst die amerikanischen Truppen, dann aber auch die britischen und französischen. Und nach dem Krieg geht der Triumphzug weiter. 

O-Ton Marly: Es gab dann 1947 eine Neuaufnahme mit Bing Crosby, und die machte dann tatsächlich den Siegeszug, das war dann das, was über diese Kriegsgeschichte hinaus ging.

Autorin: "I´m dreaming of…, ich träume von… Ja, wer tut das nicht, träumen, Sehnsucht haben… Nach einem guten Leben, nach Verbundensein mit Menschen, die uns lieben, die wir lieben. Nach Idylle, Frieden, nach Wohlfühlen in unserem Leben. Davon träumen wahrscheinlich so gut wie alle Menschen auf der ganzen Welt. Die Menschheit vereint, als Menschenbrüder und Menschenschwestern. Und so gesehen ist White Christmas dann doch auch ein christliches Weihnachtslied. 

Das Weihnachtslied des jüdischen Einwanderers Israel Balin bleibt rund 50 Jahre lang weltweit der meistverkaufte Song. Er erscheint in vielen Sprachen der Welt, ob auf Japanisch, Suaheli oder Ungarisch – und natürlich auch auf Deutsch. Und in zig musikalischen Varianten, ob als kernige Countryvariante, als Reaggae- oder Bombastpopversion, als leichter Swing, als plärrende Partymusik, als fröhliches Kinderlied. Kein Song der Welt wird mehr kopiert. 

Erst 1997 wird der weltweite Rekordhalter Irving Berlin abgelöst - von Elton John und seiner Hymne an die tote Diana. Irving Berlin erlebt dies nicht mehr. Zeitlebens neigt er, wie es heißt, zur Melancholie. Vermutlich ist er eher traumatisiert und hat Depressionen. Ein glückliches Leben hat er sicher nicht gehabt, aber ein langes. 1989 stirbt er, als steinreicher Mann, im gesegneten Alter von 101 Jahren.

Musik