Mitwirkende:
Projektchor (Leitung Kathleen Bird) • Elham Hamedi, Kamantsche • Jack Day, Orgel und Klavier
Charles du Vinage, Lesungen • Pfarrerin Anne Hensel, Liturgie und Predigt
Predigt
Was für eine Frage. Stellen Sie sich das mal vor.
38 Jahre lang krank und dann fragt Sie jemand: Willst du gesund werden? Eine Frechheit, oder?
Aber Moment mal. Vielleicht ist die Frage doch berechtigt.
Kannst du es dir eigentlich überhaupt noch vorstellen – gesund zu sein?
Du hast dich eingerichtet mit deinem Leiden. Du kommst klar.
Du weißt doch gar nicht, wie es anders war.
Du bist an die Einschränkungen gewohnt.
Und wenn du ehrlich bist:
Was würdest du verlieren? …
Nur die Krankheit? Nur die Hindernisse und Behinderungen?
Oder vielleicht auch ein Stück Identität, das sich längst mit dem Leiden verbunden hat?
Willst du gesund werden? Oder wünschst du es dir nur?
Hast du eine Vorstellung davon, was das heißt – und was das für dich bedeuten würde?
Und was bist du bereit dafür zu tun?
Ein guter Arzt oder Therapeut fragt nach, bevor er behandelt.
Und Jesus ist ein guter Therapeut. Ein guter Arzt. Für Leib und Seele, ohnehin untrennbar.
Er fragt: Willst du?
Das ist keine ärztliche Anamnese.
Keine Aufnahme der Krankengeschichte.
Er fragt nicht nach Vorerkrankungen, Symptomen oder Entwicklungen.
Nicht danach, wie es zur Krankheit kam.
Er will nicht wissen, was war.
Sondern: Was soll werden? Wo soll es hingehen?
Und das muss nicht unbedingt Gesundheit sein.
Er sieht den Menschen in seinem Dasein, an seinem Ort, in seinem Zustand
und fragt: Willst du, dass sich das ändert?
So fragt Jesus.
Sein Gegenüber reagiert darauf ausweichend.
Er sagt nicht einfach: Ja. Oder Ja, ich will.
Er fängt an, seine Geschichte zu erzählen.
Er will erklären, warum es bisher nicht geklappt hat mit der , mit der Gesundheit.
Er würde ja, aber… Die anderen sind schuld:
zum einen, weil sie schneller sind als er – ihm immer zuvor kommen bei den therapeutischen Anwendungen.
Zum anderen, weil sie ihm nicht geholfen haben, selbst mal dran zu sein.
Hat er denn danach gefragt? Hat er darum gebeten? Wir wissen es nicht.
Ich sehe die Szene heute vor mir wie eine Rehaklinik: fünf Säulenhallen mit Kranken voll belegt.
Nicht alle können geheilt werden, sicher nicht. Manche sind unheilbar.
Der Evangelist Johannes beschreibt sie mit den verschiedensten Symptomen:
die Schwachen und Ausgezehrten, die Blinden und Lahmen, die Kraftlosen.
Eine ganze Bandbreite an physischen und psychischen Leiden.
Ich sehe mit heutigen Augen:
LongCovid-Leidende und Burn-Out-Geschädigte,
die Krebspatientinnen und Schlaganfallpatienten,
Menschen mit Angststörungen oder Depression,
die Rückenleiden oder posttraumatischen Belastungen.
Alle auf der Suche nach einem Moment, der alles ändert.
Wollt ihr gesund werden?
Alle würden wahrscheinlich rufen: Ja, endlich!
Und natürlich: sofort.
Wenn – wie es in der Geschichte heißt – ein Engel das Wasser bewegt,
dann beginnt der heilende Moment.
Wer zuerst im Wasser ist, wird gesund – so glaubte man.
Also: Ich zuerst. Die anderen sind mir egal. Und dann wird alles gut.
Dann ist alles so, wie es nie war. Dann bin ich gesund.
Er hat nicht gesagt „Ja, ich will“.
Stattdessen erzählte er seine Geschichte. Storytelling. Das ist wichtig, um sich zu erleichtern, sich klar zu werden.
Und manchmal auch, sich selbst und anderen zu erklären, warum bisher nichts passiert ist.
Eine Art Rechtfertigung und Entschuldigung zugleich.
Jesus wiederum geht darauf nicht ein.
Sondern er gibt therapeutische Empfehlungen.
Er macht einen Therapieplan.
Die Heilung, die muss irgendwie schon stattgefunden haben. Dazu sagt er nichts.
Sondern er ordnet drei Maßnahmen an.
Drei Dinge sollst du tun.
Erstens: Steh auf.
Erhebe dich. Richte dich auf. Sei aufrecht. Sei gerade.
Nicht mehr krumm, zusammengesackt, verkrampft oder schlaff.
Steh auf!
Sei selbstständig, steh auf eigenen Füßen.
Etwas, das du bisher nie konntest, nicht warst.
Nimm eine neue Perspektive ein. Komm hoch, statt rumzuliegen und zu warten.
Fang an.
Endlich.
Er steht. Er ist aufgestanden. Wahrscheinlich ziemlich mühsam.
Stell dir vor: Du hast nie auf eigenen Füßen gestanden,
warst nie wirklich selbstständig.
Hast immer geglaubt, andere müssten für dich da sein, für dich einstehen.
Und jetzt?
Und jetzt stehst du. Auf wackeligen Beinen, noch gar nicht standfest.
Noch gar nicht beständig. Noch gar nicht boden-ständig. Es ist neu.
Aber du stehst. Du kannst gar nicht anders.
Es sieht alles ganz anders aus als erwartet. Neu.
Du blickst dich um. Da liegt noch etwas am Boden.
Hörst: Nimm deine Matte!
Das, worauf du gelegen hast.
Was deine Lage irgendwie erträglich gemacht hat.
Das, was dein Notbehelf war.
Kein flauschiges Kuschelbett und keine ergonomische Kaltschaum-Antidekubitusmatratze.
Eine einfache Matte.
Du hörst die Aufforderung: Nimm deine Matte!
Lass sie nicht da als Backup für einen Rückfall in alte Zeiten.
Sie ist auch gut für unterwegs. Wer weiß, wohin es jetzt geht.
Nimm sie mit, deine „Unterlagen“. Sie erinnern dich auch an das, was war.
Worauf du festgelegt warst. Du konntest ja nicht anders.
Und sie erinnert dich daran: Es soll jetzt anders sein.
Wer sich verstanden fühlt, kann gehen.
Diesen wunderbaren Satz habe ich in der Seelsorgeausbildung gelernt.
Wer sich ver - standen fühlt, kann gehen.
Der muss nicht mehr stehenbleiben,
muss nicht den eigenen Standpunkt immer wieder erklären oder rechtfertigen – weil ja keiner versteht…
Wer sich ver-standen fühlt, kann gehen.
Kann aufbrechen. In Bewegung kommen.
Neues und Anderes entdecken und tun.
Geh! sagt Jesus als drittes.
Du kannst gehen! Das ist eine Aufforderung zum Aufbruch. Geh!
Peripatei steht da auf griechisch. peri heißt umher oder um etwas herum.
Also jedenfalls nicht:
von einem Ort wegrennen oder zielgerichtet an einen anderen Ort marschieren!
Also heißt es nicht „geh weg“,
sondern „Geh umher“. Wandle!
Umherwandeln… wie der Patient durch den Kurpark oder die Säulenhallen, die fünf,…
siehst du da die anderen?
Die noch warten? Die noch nicht gehen? Die noch keiner verstanden hat?
Die noch verharren, auf die Chance warten. Festgelegt sind.
Vielleicht hat sie auch noch keiner gefragt: Willst du gesund werden?
Fragst du sie?
Nach einem Szenenwechsel. Sie treffen sich wieder. Der Therapeut und der Geheilte.
An einem Ort, an den der eine vorher nicht durfte.
Und wo der andere sich zu Hause fühlt.
Sie treffen sich wieder, und es ist anders geworden.
Wir wissen nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Stunden? Tage? Wochen?
Doch sie erkennen sich sofort wieder.
Selbst in der großen Menge der Tempelpilger,
und selbst bei den vielen Menschen, denen Jesus begegnet.
Es heißt sogar: er fand ihn im Tempel.
Hat er ihn gesucht? Hat er mit ihm gerechnet?
Denn „finden“ heißt ja nicht einfach nur zufällig begegnen.
Der Geheilte ist jedenfalls dorthin gegangen, an diesen Ort, in den Tempel.
Vielleicht wollte er danke sagen.
„Gott, du lebst. Ich lobe dich!“ haben wir gerade gesungen.
Vielleicht wollte er dort den neuen Lebensabschnitt beginnen.
Und Jesus gibt ihm dafür auch noch ein Wort mit auf den Weg.
Dieses Wort klingt für uns ein bisschen störrisch oder störend.
Denn er sagt: Sündige nicht mehr.
Als ob ein Arzt beim Abschlussgespräch in der Reha sagen würde:
Fang nicht wieder an zu rauchen, oder zu trinken.
Geheilt sein heißt nicht: Schwamm drüber und alles auf Null und so wie vorher!
Es sind sicher auch Narben zurückgeblieben, die an die Verletzungen und Kränkungen erinnern.
Aber in diesem Abschiedswort steckt mehr.
Nirgendwo steht, dass der Mensch vorher gesündigt hätte.
Oder sogar worin das bestanden hätte,
oder dass Sünde die Krankheit verursacht hätte.
Wir lesen das gerne hinein.
Aber der Satz ist überhaupt nicht kausal gemeint.
Sünde ist das, was uns von Gott trennt.
Ein Sund, der zwischen mir und Gott ist,
wie eine Wasserstraße, über die ich eine Brücke brauche.
Diese Brücke ist nun gebaut. Geh darüber.
Schau nach vorn. Und grabe keine neuen Gräben, bau keine neuen Hindernisse auf.
Der Weg ist frei. Geh ihn.
Sei konsequent. Denn was dir geschehen ist, soll Konsequenzen haben.
Amen. Das heißt: So sei es.