08.12
2024
10:00
Uhr

Dorfkirche Grunow

Ev. Gottesdienst

Ein Beitrag von Frank Städler

Beteiligte
Liturgie und Predigt: Pfarrer Frank Städler
Lektorinnen: Annelies Richter, Anette Karras
Orgel: Kantorin Patricia Kramer
Musikerinnen: Anna und Susanne Reichardt (Violine &Blockflöte), Olesia Pahl (Klavier)
 

Predigt

Thema: Stärkt die müden Hände!

Gnade sei mit und Friede von Gott und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Wenn ich manchmal nach dem Mittagessen, von einer plötzlichen Müdigkeit übermannt, am Tisch sitze bleibe, dann kann es geschehen, dass mein Kopf allmählich auf die Brust sinkt und meine Hände in den Schoß. Ich bin erschöpft und muss mich überwinden, um meinen Kopf zu heben, die Knie durchzudrücken und aufzustehen, um zu weiteren Taten zu schreiten. Meistens gelingt das. 

Anders ist es, wenn mich eine äußere Situation bedrückt. Wenn die Umstände mich lähmen oder wenn ich gezwungen bin, die Hände in den Schoß zu legen. Dann brauche ich keine Pause, sondern einen Aufruf. Dann brauche ich einen, der mich anspricht, der mir hilft, mich innerlich aufzurichten. Denn es geht nicht um eine vorübergehende Mittagsmüdigkeit, sondern eine tiefgreifende moralische Erschöpfung. 

In so einer Situation der Erschöpfung ist das Volk Israel, als der große Trostprophet Jesaja sein Wort spricht: Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sagt den verzagten Herzen, seid getrost, fürchtet euch nicht

Jesaja ruft, um etwas zur Zukunft aller zu sagen: „Dazu setzt euch zuerst einmal ordentlich hin. Hebt den Kopf, legt die Hände auf den Tisch. Zeigt mir, dass ihr da seid!“

Israel ist keine Schulklasse, aber als Kollektiv wird es angesprochen: „Ihr alle seid gemeint!“ Das ist wohl die Aufgabe des Propheten: alle anzusprechen. Und alle besonders dann anzusprechen, wenn ein aufrichtendes Wort nötig ist. 

Das ist seine Spezialität: In einer Verbindung, wie wir sie heute nicht mehr kennen, denkt Jesaja sowohl spirituell-religiös und politisch-visionär. 

Für ihn ist untrennbar, was wir mit gutem Grund verschiedenen Bereichen zuordnen. Hier die Innen- oder Außenpolitik, da die Religion und die Kirche, und dann gibt es vielleicht ein Denken in die Zukunft. Eine Vision? Aber wer ist da heute gefragt?

Für Jesaja war die Sache klar: Gott handelt an allen Menschen: er handelt innenpolitisch, außenpolitisch, machtpolitisch und religiös zugleich. Für ihn gibt es keine Trennung. Gott macht sich Menschen zu nutze. Er sieht, was der Mensch nicht sehen kann und er bereitet „dem Volk, das im Finstern wandelt“, einen Weg. Als Prophet ist Jesaja in besonderer Weise von Gott inspiriert und befähigt, etwas zur Zukunft zu sagen.  

Also: stärkt, die müden Hände, macht fest die wankenden Knie! 

Und was kommt nun?

Nun kommt seine Vision des zukünftigen Heils. Er sagt sie den Unterdrückten und den Gefangenen, den Geschundenen und Gequälten. Er sagt Israel: Gott kommt zu Rache! 

Liebe Gemeinde,

was sagt er? Natürlich bin ich gedanklich über diesen Satz gestolpert. So sehr, dass ich ihn erst aus dem gesamten Text streichen wollte. Das ist nicht zumutbar, dachte ich. Am zweiten Advent! In der Zeit der Vorbereitung und Ausrichtung auf das Weihnachtsfest. Da wollte ich das Wort Rache nicht im Text haben. 

Gott kommt zur Rache, das unterstreicht doch nur -dachte ich- die gängigen Klischees vom Alten Testament, dass es dort um einen eifernden, rächenden Gott geht. Dass wir dort von einem Gott Israels lesen, der nichts dagegen hat, dass seine Feinde vertilgt werden!

Und wir vergessen bei dieser gedanklichen Einschätzung zum Alten Testamentes, dass es nicht so einfach ist. Denn wenn wir genauer hinschauen, lesen wir oft im Alten Testament: Gott ist gnädig und barmherzig; er ist langmütig und reich an Gnade (die Psalmen). Und am Anfang der Bibel (2. Mose) heißt es: Gott bewahrt Tausenden Gnade und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde. Das ist die wichtige Seite Gottes: gnädig und barmherzig sein. 

Aber gibt es eine Liebe ohne Haltung und Position? Liebe, die einem geliebten Menschen schadet? Oftmals ja, solche Liebe gibt es. Und wenn das bei Menschen so ist, wie ist es bei Gott? Kann Gott nur der liebende Gott sein? Was ist mit den Menschen, die sich böse verhalten?

Und so geht derselbe Satz im 2. Buch Mose -der mit der Gnade beginnt- wie folgt weiter: …aber ungestraft lässt Gott niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied (2. Mose, 34,7). 

Gott vergisst nicht. Er liebt, aber er sühnt auch die Missetaten. Rächt sich an den Menschen.  

Oft wünschen wir: es gäbe nur Liebe. Es gäbe nur die eine Seite, die sonnige, friedliche, versöhnende. Aber wir wissen es von unseren eigenen Beziehungen, es gibt auch die andere Seite der Liebe. Die mit Zorn und Enttäuschung, mit Eifersucht und mehr. Wir wissen, unser Zorn ist besonders groß ist, wenn es um enttäuschte Liebe geht. Manchmal geht es auch um Rache. 

Doch wie ist es bei Jesaja? Warum steht am Anfang seiner Vision: Gott kommt zu Rache!?

Ich denke, für Gott ist das Maß voll. Gott erträgt das Leid seiner geliebten Menschen nicht mehr. Gott, der eifernd-liebende Gott, er kommt, um die Seinen zu schützen.

Heute – in unserer Zeit – differenzieren wir viel mehr zwischen Gut und Böse, da gibt es mehr Grautöne zwischen schwarz und weiß, zwischen Rache und Liebe. Ein rächender Gott erscheint sich da gegen unsere scheinbar friedliebende christliche DNA zu setzen. Beim Lesen merke ich, wie ich auf den Ausgleich setze und auf die Möglichkeit der Wendung zum Guten. Doch lesen wir weiter: Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen (4).

Es ist nicht die Vernichtung des Feindes. Es sind keine Allmachts-Phantasien. Ziel Gottes, Teil der Vision Jesajas, ist die Hilfe für Israel in einer eindeutig-parteiischen Liebe. Gott will, dass der Gläubige drauf vertrauen kann, wenn er betet: ich hebe meinen Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe. Er will, dass der Betende sich selbst antworten kann: meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat (Ps.121). Das ist das Eine. Der Schutz der Gläubigen vor seinen Feinden.

Das Andere ist die Verhältnismäßigkeit der Rache. Rache oder Vergeltung soll nicht ewig dauern, sie hat keinen Selbstzweck. Gott will Menschen nicht vernichten, sondern verwandeln. So wie es ein anderer Prophet -Hosea- sagt: Mein Herz ist anderen Sinnes, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt. Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn… Denn ich bin ein Gott und nicht ein Mensch (11,8-9). 

Hier verwandelt sich das Wort Rache. Hier wird klar, dass es niemals Gottes Absicht ist, zu vernichten, sondern zu wenden. Gott will Menschen zurückbringen. Er will sie zurechtbringen, er will heimbringen und stärken.

Als ein Kind in der Krippe, so kommt Gott, so erwirkt er Umkehr. Und das ist die Adventsbotschaft. Er kommt zur Vergeltung als der, der sich am Kreuz hingibt, das ist die neue Nachricht.

Als wollte er belohnen, so richtet Gott die Welt., schreibt der Theologe und Dichter Jochen Klepper in seinem Adventslied, „Die Nacht ist vorgedrungen“: Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht

Darum geht es in der Adventszeit in diesem Jahr: Um die Hinwendung Gottes zu den Menschen, auch zum sündigen, schuldigen Menschen. Gott wartet gerade auf ihn. 

 

Teil 2

Liebe Schwestern und Brüder,

Jesajas Worte wurden aufgeschrieben. Denn es sind tröstende Worte. Sie handeln von einer helleren, besseren Zukunft. Er sagt: Gott wird euch helfen. Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen, wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. 

Und ich ahne, dass damals viele Menschen ihren Kopf hoben und neue Kraft und Hoffnung schöpften. Aber heute? Was machen wir damit? Brauchen wir seine Worte noch? Stärken sie uns noch genauso wie damals? 

Ich sollte selbst schon einmal meine Vision verschriftlichen. Nicht prophetisch, sondern in einem Aufsatz um Zukunft. Und zwar die Vision vom zukünftigen Sozialismus. Das war in Klasse 7. Den real existierenden Sozialismus kannten wir bereits. Und so schrieb ich von einem breiten Kanal. Von einer Wasserstraße, die alle Länder Mitteleuropas verbindet. Naiv! Ich beschrieb eine Wasserbahn, die von Paris bis nach Moskau recht. Unmöglich! Aber ich dachte, da haben alle Menschen Anschluss. Ob auf einem kleinen Boot oder einem großen Dampfer. Ohne Grenzen. Stattdessen freier Austausch. Das war auch eine Sehnsucht in mir. Ich wusste doch, dass der Weg nach Paris versperrt war. Dennoch schrieb ich meine Vision: von Paris nach Moskau! 

Heute hat sich einiges erfüllt. Handel und Warenaustausch, Reisen und Freiheit. 

Es war nicht mein Traum, nicht mein Aufsatz, der dazu geführt hat, dass Mauern und Beschränkungen fielen. Aber es waren millionenfache Träume, die ein Kraft entfalteten, das bedrückende Äußere zu verändern.

Und heute? Brauchen wir immer noch eine neue, verbindende Idee für die Zukunft? Wasserstraßen und Wege gibt es, ebene Bahnen, schnelle Verbindungen auch.

Kann uns Jesajas Neues bieten? Auch er spricht vom Wasser in der Wüste und von einer ebenen Bahn, auf der die Erlösten gehen werden. Haben wir nicht das alles? Müssten wir nicht glücklich sein? Ziel erfüllt, Mission abgeschlossen!

Nicht ganz. Das Technische, das Freiheitlich-Politische, das liegt wohl im Rahmen unserer Möglichkeiten. Das Bauen ebener Bahnen, das Schaffen von Verbindungen zwischen den Völkern, das Offenhalten von Kanälen muss uns stets weiter beschäftigen.

Aber eine Dimension scheint schmerzhaft zu fehlen. Unsere Umwelt legt uns oft nahe, dass wir Erfüllung finden, wenn wir nur unseren Blick senken und gebannt auf unsere Mobilgeräte schauen, um dort das zu bestellen, was Erfüllung bietet. Dann sind unsere Köpfe gesenkt und wir fragen uns, was kann es sein? Was brauche ich noch? Dann scrollen wir weiter, gehen auf bestellen, und 3 Tage später ist alles da. Sind wir zufrieden damit? 

Irgendwie wissen wir schon, dass der Erwerb von all diesen Dingen zu einem Ersatz werden kann für ein nicht gelebtes Leben, für nicht erhaltende Zuwendung. Das neue große Auto kann zum Liebesersatz werden. Die schnell gebuchte Wochenend-Flugreise kann zur Flucht vor der Wirklichkeit werden. 

Und trotzdem fehlt etwas. Es ist ja nicht wirklich so, dass unsere neue Zeit der Endzustand ist. Dass wir alles erreicht haben. Dass alle Probleme gelöst sind. Sonst wären wir erlöst. Sonst wären all unsere Häupter erhoben. Sonst wären unsere Hände tatkräftig, unsere Knie fest. Etwas fehlt!

Und im Hinterkopf unserer Adventszeit fragen wir uns: sind wir noch auf dem richtigen Weg? Oder müssten wir einmal innehalten? Denn etwas fehlt. Etwas, das wir im Alltag kaum auszusprechen wagen.

Doch dazu müssten wir aufsehen. Und wenn wir aufsehen, dann können wir es uns eingestehen: 

Ja Gott, manchmal fühle ich mich leer. Und dann versuche ich meine Leere mit Ersatz zu füllen. 

Ja Gott, manchmal fühle ich mich so richtig verloren im Leben, obwohl ich mitten drin bin. 

Ja Gott, sieh das doch mal. Ich weiß auch nicht weiter. Wüste in mir. Und ich frage mich, kann doch noch etwas blühen. Kann da noch etwas wachsen? Kann aus mir noch etwas werden? 

Und wenn ich dann aufsehe, kann ich ihn wahrnehmen: den Silberstreif am Horizont. Wenn ich aufsehe, kann ich nach dem Du fragen: Du Gott? Wo bist du in dem Getriebe, im Rummel meines Lebens? 

Wenn ich aufsehe, komme ich einer Antwort näher. Und heute lese ich bei Jesaja vom Wasser in der Wüste. Von einem Weg der Erlösten. Und ich ahne, es geht gar nicht um das technische Mögliche – das fasziniert, sicher. Es geht gar nicht um die Umsetzung einer neuen Projektidee für einen verbesserten Verkehrsweg – das ist wichtig, natürlich!

Aber hier und heute geht es um das, was fehlt. Und da kommt Gott. Und da spricht er von einem Angebot. Von seinem Kommen in die Welt. Und da kommt das Kind in der Krippe. Es ist ein persönliches Angebot Gottes, an mich adressiert. Es ist die Erfüllung einer alten Vision. Das Einlösen einer Verheißung Jesajas. Das Licht in der Finsternis. 

Ein kluger Mensch (Anselm Grün) sagte einmal: die Trost-Worte Jesajas wollen meine Wüste zum Blühen bringen. Sie wollen mich befreien vom Ballast, der mich daran hindert, meinen Weg zu gehen, den Gott mir schon heute zutraut. 

Gehen wir also – liebe Schwestern und Brüder –, als wären wir schon die Befreiten und die Erlösten. Und reichen wir einander die Hand, um uns zu stärken, so wird Gott uns stärken: damit unsere Hände nicht mehr müde sind und unsere Knie nicht mehr wanken und unsere Herzen zuversichtlich und fröhlich glauben. 

Und der Friede Gottes, der höher ist, als all unsere Vernunft, er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.