Am Sonntag, dem 6. Juli 2025, überträgt rbbKultur live den evangelischen Gottesdienst aus der Pauluskirche in Berlin-Zehlendorf.
Mitwirkende sind KMD Cornelius Häußermann an der Orgel und der Bläserchor Blech in Südwest unter der Leitung von Christian Syperek. Sebastian Krug liest das Evangelium, Pauline Vicktor spricht Psalm und Gebete. Die Predigt hält Pfarrerin Dr. Donata Dörfel.
Die Übertragung erfolgt unter der Leitung von Barbara Manterfeld-Wormit, Rundfunkbeauftragte der EKBO.
Predigt 2025-06-07 Pauluskirche Zehlendorf | Donata Dörfel
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Bruder Jesus Christus!
„Es klingt vielleicht seltsam, aber: Ich bin auch erleichtert. Ich glaube, ich kann jetzt neu anfangen. Danke für Ihre Worte!“ Das sagte mir eine Frau am Grab ihres Vaters. Sie war erst jetzt angereist und wir sahen uns zum ersten Mal. Nur ihre beiden älteren Schwestern hatte ich vor der Trauerfeier treffen können. Jetzt schaut sie mich an und sagt: „Wissen Sie, die letzte Begegnung mit meinem Vater war nicht gut. Da blieb so viel offen. Damit hab´ ich gehadert. Aber so, wie ich jetzt heute auf sein Leben sehen konnte, da merke ich: Jetzt ist es gut, auch wenn er jetzt nichts mehr selbst dazu sagen kann. Aber für mich spüre ich, dass ich jetzt neu anfangen kann – auch mit meinen Schwestern.“
Diese Begegnung geht mir noch nach. Sie hat mich berührt. Eine Geschwistergeschichte. Das Verhältnis zum Vater. Was uns prägt. Was uns fehlt, wenn der Abschied von den Eltern kommt. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn berührt all diese Fragen und Empfindungen. Im Fall der Tochter waren es nur wenige Andeutungen. Wichtig war ihr wie dem Sohn im Gleichnis: eine Versöhnung mit dem Vater, sogar nach seinem Tod; und eine neue Etappe der Beziehung zu den Geschwistern. Übergänge – Neuanfänge. Jetzt, in der Zeit der Trauer beginnt diese Frau sich auf den Weg zu machen, anzunehmen, was war und was ist, was sein kann – die Situation bringt Bewegung in die Familie. Aufeinander zugehen. Sehen, wahrnehmen, vergeben – und im besten Fall: neu anfangen. Es gibt Zeiten im Leben, da haben wir die Chance dazu. Da sind wir sensibel. Schauen auf das eigene Leben, was war und sein könnte. Haben ein offenes, ein weiches Herz wie Vater und Sohn am Ende, so dass Liebe und Vergebung eine Chance haben.
Neuanfang.
Jesus sagt: ein neuer Anfang ist möglich. Er erzählt davon in dieser berühmten Geschichte, die jeden trifft, wo jede sich mit irgendwem im Gleichnis identifizieren kann. Familie, Geschwister, Vater, Mutter, Lieblingskind – da haben wir alle unsere eigene Geschichte. In jeder Familie hat jeder eine bestimmte Position und jeder hat sein Päckchen zu tragen.
Es geht um existenzielle Fragen: Was ist, wenn wir scheitern? Wer fängt uns dann auf? Wer hält dann zu mir? Bekomme ich noch eine Chance? Sind neue Anfänge möglich?
Jesus erzählt eine Alltags-Geschichte. Er erzählt sie, weil er angegriffen wird von denen, die immer Recht haben. Damals mussten dafür die sogenannten Pharisäer herhalten – Schriftgelehrte, die sich gut auskannten in den Glaubenstexten und Vorschriften. Sie kritisieren Jesus, weil er plötzlich anderes fordert, sich einlässt auf die am Rand: auf „Zöllner“, die andere abzocken, und „Sünder“, die geltendes Recht brechen. Das sorgt für Unruhe. Und Unruhe macht Angst. All diese Gescheiterten nimmt Jesus in Schutz vor dem Recht der Rechtschaffenen.
Der Evangelist Lukas schrieb diese Geschichte später auf. Er selber war Arzt und hatte vielleicht daher immer den ganzen Menschen im Blick. Lukas weiß: es ist wichtig zu vergeben und neu anzufangen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes heilsam. Ohne Vergebung gehen wir kaputt. Es ist wichtig, vergeben zu können und selber Vergebung zu empfangen, denn alle müssen wir da durch. Jeder kommt irgendwann im Leben an den Punkt, wo Vergebung nötig ist. Weil ich selber in die Rolle des verlorenen Sohnes geraten bin und Dinge versäumt, falsch eingeschätzt und falsch entscheiden habe - Niemand ist allein mit solchen Erfahrungen als Bruder, Schwester, als Sohn oder Tochter, als Vater oder Mutter, als Mensch in diesem Leben. Ohne Vergebung sind wir alle nichts.
Gleichnisse sind Rollenspiele. Sie laden ein, dabei zu sein, also:
Wo sind Sie selbst in dieser Geschichte? Sind Sie unternehmungslustig und risikofreudig, wie der jüngere Sohn: er bricht auf, riskiert alles, probiert etwas aus, scheitert, erinnert sich und traut sich umzukehren! Oder spüren Sie eher, wie der ältere Sohn, die volle Verantwortung: dass das Unternehmen funktioniert – trotz der angespannten wirtschaftlichen Lage - und dass Ihre pflegebedürftigen Eltern gut versorgt sind? Stellen Sie dabei Ihre eigenen Bedürfnisse oft hintan – pflichtbewusst, wie der ältere Sohn, der den Hof des Vaters managt und den Weggang des jüngeren Bruders irgendwie zu ersetzen, auszugleichen sucht? Ohne dass einer gefragt hat, ob er das möchte? Oder fühlen Sie sich in der Geschichte dem Vater ganz ähnlich – weil ja auch Sie alle Ihre Kinder gleich lieben und – bei aller ihrer Verschiedenheit – jede und jeden einzeln im Herzen tragen? Oder denken Sie an den eigenen Vater, die eigene Mutter, die genau so war wie im Gleichnis oder eben ganz anders: hart und unnachgiebig? Kalt in der Liebe?
Jesus sagt: So wie der Vater im Gleichnis, der dem Kind entgegeneilt, ist Gott, Vater im Himmel, für alle Menschen. Und wenn Du dich selber verloren hast, verloren fühlst, wenn Du alles verbraucht hast, was das Leben schön macht und sicher, reich und stabil, wenn Du nicht mehr weiterweißt, wie der jüngere Sohn, der alles aufgebraucht hat und ganz blank dasteht: dann lässt Gott Dich nicht aus dem Blick. Bleibst Du seine Tochter und sein Sohn – egal wie erwachsen. Das ist Gottes Perspektive. Er ist da. Bleibt bereit. Kommt Dir entgegen – sofort – wenn Du es brauchst.
Menschliche Uhren ticken anders:
Der Glaube braucht Zeit. „Er ging in sich“, heißt es im Gleichnis bei Lukas. Der Sohn braucht Zeit, um in sich zu gehen, um zu verstehen und zu begreifen, was er fühlt, was er braucht und was er falsch gemacht hat. Er braucht Zeit, um sich auf den Weg zu machen und um Vergebung zu bitten. Das könnte so ein Gedanke heute zum Mitnehmen sein, denn das braucht es ja nicht nur und erst, wenn eine große Katastrophe passiert. Das tut auch gut, wenn alles läuft und in Ordnung zu sein scheint. Also: Nimm Dir Zeit innezuhalten – vielleicht erst einmal durch einen Blick aus dem Fenster, einen Spaziergang am Tag, vielleicht sogar eine Woche im Kloster; Nimm Dir Zeit nur für dich – und für Gott; Zeit um genau hinzuspüren, um wahrzunehmen und anzunehmen, was ist. Das ist die Basis für Neuanfänge. Auch die Basis für gelingendes Leben, das sich gut anfühlt. So erzählt Jesus diese Geschichte einer völligen Umkehr.
Musik | Orgel | Cornelius Häußermann - 2 Minuten
Neuanfänge brauchen Zeit. Zeit um in sich zu gehen.
Kürzlich sind mir zwei junge Männer begegnet, die dieses „in sich gehen“ über längere Zeit geübt haben. Sie gehören zu einer Organisation mit dem Namen „Combatants for Peace“ – Friedenskämpfer. Der eine von ihnen, Rotem Levin, ist Israeli und Jude. Er hat einige Jahre im israelischen Militär gearbeitet, wurde unglücklich dabei und ist ausgestiegen, um Medizin zu studieren. Da er während seines Militäreinsatzes den Kontakt zu sich selbst verloren hat, braucht er lange, um überhaupt wieder eine Verbindung zu spüren. Der andere, Osama Eliwat, ist Palästinenser und Muslim. Als kleiner Junge hat er palästinensische Flaggen gemalt und aufgehängt. Er wurde von israelischen Soldaten entdeckt, festgehalten und gequält. Später warf er dann Steine auf israelische Panzer, die durch das Dorf rollten, wo er mit seiner Familie wohnte, und kam ins Gefängnis. Nach seiner Freilassung begann er Anschläge zu planen.
Zwei Lebensgeschichten. Keine Brüder, aber Nachbarn eigentlich. Verloren irgendwie. Unversöhnt. Dann sind beide der Organisation „Combatants for Peace“ begegnet. Bei Rotem war das in Deutschland. In einer Akademie wurden dort Begegnungen arrangiert zwischen jungen Israelis und Palästinensern. Nie hätte Rotem gedacht, dass er mit diesen gefährlichen Terroristen sprechen könnte. Nun hört er zu und beginnt, den Schmerz der anderen zu verstehen.
Osama kam mit „Combatants for Peace“ in Bethlehem in Kontakt. Erst meinte er, es sei das falsche Zimmer, weil dort fast alle eine Kippa aufhatten. Er fürchtete, in eine Falle gelockt worden zu sein. Doch dann wird er von geduldigen Begleitern ins Gespräch hineingeführt, hört zu, beginnt, die Angst der anderen zu verstehen.
Rotem und Osama - beide konnten neu anfangen. Sie sind Freunde geworden. Mit der Zeit. Jetzt reisen sie gemeinsam um die Welt und erzählen von ihrem Leben und, von der tiefen Veränderung, die sie beide erlebt haben. Von der Hoffnung, dass – trotz allem - ein neuer Anfang möglich ist. Und dass er bei mir selber beginnt. Das ist nicht einfach. Da gibt es Widerstände. „Du bist ein Verräter!“ wurde Rotem von der eigenen Familie vorgeworfen. Osama bekam zuhause zu hören, dass er mit der Besatzungsmacht zusammenarbeiten würde und vermutlich ein Spion sei. Beide versuchten, die Vorwürfe zu entkräften, nicht alle ließen sich überzeugen. Mancher Kontakt brach ab, weil die Vorurteile über die jeweils andere Seite einfach zu groß waren.
Widerstand gibt es auch im Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Vom eigenen Bruder. Er versteht nicht, warum der Vater so begeistert und großzügig reagiert auf die Heimkehr des jüngeren Bruders. Er hat so viel getan – der andere nichts in seinen Augen. Er ist enttäuscht. Da antwortet der Vater mit Liebe: „Dich liebe ich genauso wie deinen Bruder, sagt er und versichert: Wir leben doch diese Gemeinschaft des Vertrauens immerzu, aber er, Dein Bruder, ist durch die Maschen gefallen. Fangen wir ihn auf. Jetzt ist die Zeit für einen Neuanfang. Für uns alle. Freu dich doch mit!“
Das ist die Kunst der Gleichnisse: Wir sind nie nur einer. Wir sind immer viele. Ein Stück von jedem steckt auch in mir: Etwas vom Draufgänger, etwas vom Gescheiterten, etwas vom Enttäuschten und die Angst zu kurz zu kommen. Ein Stück Bereitschaft zur Liebe und Vergebung und die Sehnsucht danach. Alle Personen im Gleichnis begegnen sich in unserer Seele.
Das Evangelium endet offen mit der großzügigen Einladung des Vaters. Freue dich mit! Warte nicht bis zum Ende, sondern wage Leben jetzt! Gleichnisse bringen ins Gespräch. Wie „Combatants for Peace“. Sie bringen ins Gespräch mit anderen Menschen und Haltungen und Erfahrungen. Sie bringen ins Gespräch mit mir selber, geben Raum zum Nachspüren: Alles Voraussetzung für neue Anfänge. Um die geht es heute. Gott schenke uns Mitgefühl und Verstand und Zeit und Raum und Begegnung. Dass der Friede Gottes, höher als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne bewahre in Jesus Christus. Amen