10.11
2024
10:00
Uhr

Friedenskirche Berlin-Charlottenburg

Ev.-freikirchl. Gemeinde Charlottenburg

Ein Beitrag von Hendrik Kissel

Beteiligte
Predigt: Pastor Hendrik Kissel
Lektor:innen: Dagmar Eichhorn, Robert Spitzner
Moderation: Stefanie Elmendorff
Musikalische Leitung: BUrkardt F. Fabian
Trompete: Theo Altmann
Drum: Gwendolin Solveig
E-Bass: Rafael Maleh
Sologesang: Raphael Arnold
 

Predigt

Gestern, am 9. November, wurde vielerorts der Novemberpogrome von 1938 gedacht. Das Verbrechen war
der Beginn der systematischen Verfolgung unserer jüdischen Bevölkerung.
Dieser öffentliche Auftakt war durch eine Vorgeschichte erst möglich geworden. In unserer biblischen Geschichte
klingt die Vorgeschichte des 9. November 1938 an und es ist der 1. April 1933: Es hieß „Deutsche,
wehrt euch!"
Der Slogan war Teil der Nazi Propaganda und rief dazu auf, jüdische Geschäfte und Dienstleister zu boykottieren.
Es sollte die deutsche Bevölkerung dazu bringen, sich gegen Juden zu wenden und sie aus dem wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Leben zu drängen.
Die Slogan der ägyptischen Machthaber lautete: “zahlreicher und mächtiger als wir”. Das sagte der König seinem
Volk über Israel. Und weiter: Ein Krieg könnte ausbrechen, dann würden sie sich auf die Seite des Feindes
schlagen.
Mit dieser an den Haaren herbeigezogenen Begründung konnte er einen Teil der Bevölkerung Ägyptens der
Ausgrenzung durch Sklavenarbeit unterwerfen.
Mit dieser Lügenpropaganda wurden sie zu Fremden gemacht, schließlich zu bedrohlichen Feinden.
Das erinnert ganz an die Vorgeschichte des 9. November: „Juden sind national unzuverlässig.
Auch 1933 ging die perfide Saat unter der deutschen Bevölkerung auf. wie den Ägyptern, war ihnen “Israel”
mehr und mehr “unheimlich”, so lesen wir. Man könnte auch “sich ekeln” oder “angewidert fühlen” übersetzen,
Anscheinend handelt es sich hier um ein Ressentiment, was die Ägypter da empfinden. Das wäre dann - wie
1933 - staatlich produziert!

Andere wurden zu Fremden gemacht, und Fremde können leichter als Feinde geglaubt und dann auch empfunden
werden.
Und so konnte ohne Rücksicht auf die Öffentlichkeit losgelegt werden: die Anordnung der Selektion:
Jungen, künftige Männer, sollen getötet werden, Mädchen, künftige Frauen, dürfen leben. Männer werden als
Gefahr betrachtet; sie könnten ja beispielsweise Aufseher totschlagen, statt ihr Regime zu erdulden. Mädchen,
künftige Frauen gelten als ungefährlich, die werden sich schon gefügig machen lassen.
Es ist nicht ohne Ironie, dass jetzt von widerständigen Frauen erzählt wird: Schifra und Pua.
Diese namentlich genannten Hebammen fürchten Gott und tun nicht, was der namenlose König sagt. Gott
fürchten heißt für die beiden - die Ägypterinnen gewesen sein müssen - Ungehorsam sein gegenüber dem König.
Und Gott reagiert auf ihren Mut, der ein Risiko der Menschlichkeit ist.
Er tut ihnen Gutes und er macht ihnen Häuser - wie auch den 12 Stammvätern - so die ersten Verse vor unser
Bibeltext.
„Häuser“ , im Alten Israel ist das die Familiensippe, der der Erzvater vorstand.
Insofern ist es eine Besonderheit, dass Frauen ein „Haus“, sie also eine Sippe von Gott bekommen.
Die rabbinische Auslegung besagt später, dass Schifra die Stamm-Mutter der Leviten wurde, des Priestertums,
und Pua die Stamm-Mutter, des Königshaues.
Zurück in unsere Geschichte:
Der König stellt die beiden Hebammen also zur Rede.
Die - treten in diesem Verhör nicht als Bekennerinnen auf, etwa: man muss Gott mehr gehorchen als den
Menschen oder hier stehen wir, wir können nicht anders.
Nein, mit List; sie versuchen den König zu überlisten, der gerade verkündet hatte, die Hebräer überlisten zu
wollen.
Sie greifen die gerade vom König produzierte Fremdheit auf, machen Gebrauch von jener unheimlichen Vorstellung
über Israeliten, sie arbeiten, spielen damit:
Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen - behauptet sie kess - sie sind anders, sie sind fremd.
Sie sind nämlich wie Tiere - die Lutherübersetzung zerstört ihre Pointe: dort heißt es nur kräftige Frauen.
Wir haben es hier mit einem Klischee aus dem Arsenal des Antisemitismus zu tun:
die Jüdin - verlockend und schön, aber gefährlich; nicht züchtig, sondern zuchtlos; wild.
Und in diesem Klischee zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Antisemitismus, Juden einerselis für unterlegen
zu halten: keine Kultur, nicht mal Untermenschen, sondern parasitäres Ungeziefer, das es zu vertilgen gilt;
und dann und das macht den Unterschied zum Rassismus,
da bleibt der andere Unterprivilegiert.
beim Antisemitismus ist der Fremde gleichzeitig überlegen: hochintelligent, vernetzt die Welt beherrschend -
daher umso bedrohlicher.
Doch die Aussage der beiden Hebammen, so geschickt sie klingt, erweist sich als vergeblich; viele können sie
nicht retten.
Der Pharao erteilt den Mordbefehl nun seinem ganzen Volk.
aufgrund der Vorgeschichte des 9.novembers war es in Deutschland ähnlich:
Die Fülle antijüdischer Maßnahmen nach dem 30. Januar 1933 waren auch ein Test, ob sich gegen sie Widerstand
regt. Das war nur in geringem Maß der Fall, auch in Zeiten, in denen solches Widerstehen noch nicht lebensgefährlich
war.
Und nach dem 9. November 1938 konnten die Nationalsozialisten sich sicher sein, auch künftig mit Protesten
und Solidarisierungen nicht rechnen zu müssen.
In Ägypten sind es Frauen, die hier mit List widerstehen.
In der biblisch bezeugten Geschichte Israels sind es wenige, überwiegend ist da von Männern die Rede.
Aber an entscheidenden Wendepunkten treten Frauen auf. Moses Mutter, die ihrem neugeborenen Sohn eine
Arche baut und sie in Nil aussetzt;
Pharaos Tochter, die sofort erkennt, dass es sich bei dem Kind um eins der Hebräer handelt - doch auch die
Königstochter tut nicht, was ihr Vater, der König sagt.
Und heute noch zu Pessach, wird immer das Hohelied aus der Bibel Israels gelesen, es singt vom Aufbruch
und vom Ausbruch einer Frau.
Warum zu Pessach? weil auch eine Frau das Urbild der Rettung aus Ägypten ist: Sarah, nicht ihr Ehemann
Abraham.
Vom Pharao wurde Sarah versklavt und vom Gott Israels durch Plagen freigepresst
Schließlich Hanna, singt und tanzt wie eine Revolutionärin, und letztlich die Osterberichte aller Evangelien -
auch sie bezeugen ein Rettungsgeschehen - alles Frauengeschichten.
Es ist gut, solcher Menschen zu gedenken, sie nicht zu vergessen und Gott für sie zu danken.
unsere beiden Hebammen haben - so könnte man sagen - nur ihren Job erledigt:
Kinder lebendig auf die Welt bringen, nicht umbringen.
Im Kontrast fällt auf, wie viele Mediziner und anderes medizinische Personal gefühlslos mittaten beim Morden,
nicht nur beim , Euthanasie' genannten Morden.
Heute sehen ich auch eine gefühlslosigkeit:
vieler Demonstrierenden, ohne Empathie für die jüdischen Opfer; feiernde Zivilbevölkerung in Gaza und bis
heute Unglaube - teilweise sogar bei Menschenrechtlerinnen - gegenüber der Gewalt an jüdischen Frauen am
7. Oktober 2023.
Und nicht zu vergessen das Unfassbare, dass Veranstaltungen, die darüber informieren wollen, an Universitäten
mit fadenscheinigen Ausflüchten abgesagt werden.
Seither ist es nicht nur entsetzlich, es ist auch unbegreiflich.
Wie geht das?
Das geht, weil es Vorgeschichte gibt.
Jahrhunderte christlicher Erziehung zur Verachtung der Juden.
Schon lange verstanden Christen - wie Pharao - die Juden nicht mehr als Segen für die Völker, auch für das
deutsche Volk.
Erst recht verstanden sie ihren Herrn Jesus nicht als Stimme, als Verkörperung seines Volkes, sondern als
Gegner der Juden, aller Juden.
Und das schwächte, das lähmte Empathie, Solidarität, Widerstand.
Auch diejenigen, denen beim Anblick der brennenden Synagogen, der zerstörten Geschäfte unbehaglich war,
beruhigten sich mit dem Gedanken:
Es trifft jedenfalls nicht die Falschen.
Auch in den Reihen der Bekennenden Kirche und uns Baptistenkirchen fanden sich nur Wenige, die den jüdischen
Bürgerinnen und Bürgern halfen und beistanden.
Am Ende kommt, der Befehl an alles Volk - in der Bibel an das ägyptische und bei uns das deutsche Volk.
Am Ende der Befehl an alle - morden zu gehen,
die Beteiligung aller Teile der Gesellschaft am Mordprogramm;
die Denunziation untergetauchter Juden;
die Arisierungsgewinnler,
auch die Profiteure freiwerdender Stellen im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb,
in der Medizin und der Bildung,
im Handel und in der Industrie,
in der Verwaltung und im Rechtswesen.
Manche haben in der Vorbereitungszeit mit der Pfiffigkeit der Hebammen reagiert, mit den antisemitischen
Klischees gespielt, gearbeitet.
wie die zwei, haben sie den Antisemitismus satirisch ad absurdum geführt und damit lächerlich zu machen
versucht - stellvertretend für nicht sehr viele seien Kurt Tucholsky und Friedrich Hollaender genannt.
Vielleicht hätte auch Chaplins "Der große Diktator" befreiendes Gelächter bewirkt, wenn er vor der Show entstanden
wäre.
Aber unter der Last nach der Schoah scheint mir satirische Methode im Kampf gegen heutige Antisemiten
nicht vorstellbar.
Aber wir können die beiden Frauen mit ihrer List, Tarnung und Tauschung, ehren, und damit alle, die Juden
halfen und helfen.
Zwei Frauen, wenige, die widerstanden.
Dass Schifra und Pua politisch betrachtet erfolglos blieben, ändert nichts daran, dass die Bibel sie ehrt: ihre
Namen nennt und notiert, dass Gott ihnen Gutes tat und ihnen Sippen ermöglichte.
Ob es hebräische Hebammen sind oder ägyptische, gottesfürchtige Gerechte unter den Völkern, sie können
Nichtjuden zum Vorbild werden.
Gott sei dank leben wir nicht in so einer Zeit!
Wir müssen unser Leben nicht riskieren, wie in unserer Frauengeschichte.
Noch sind wir nicht im Widerstand, leben wir nicht unter einer Gewaltherrschaft.
Die Beschimpfung, Bedrohung, die tätlichen Angriffe auf Leib und Leben von Juden und auf ihre Einrichtungen,
sind entsetzlich, aber sie erfordern Beistand, nicht Widerstand:
Beistand, also Anteilnahme, Solidarität; dafür sorgen, dass Juden sich nicht allein- und im Stich gelassen fühlen;
auch Widerspruch gegen Vereinfachung und Sprache; Entlarvung der Antisemiten, die behaupten, keine
zu sein, sondern Antizionisten und Kritiker der Politik des Staates Israel.
Nein, noch gibt es nicht den “Aufstand der Anständigen”:, das wäre zu viel der Ehre. Es herrschen doch noch
nicht die Unanständigen!
Aber es viel zu tun und es gilt zu kämpfen, ohne unser Leben zu riskieren.
Das Wort Gottes für heute lehrt nämlich auch, den Feinden nicht mit Pathos die Ehre anzutun, die sie nicht
verdienen, und damit womöglich die Angststarre des Kaninchens vor der Schlange zu bewirken – einer in der
Tat lebensgefährlich giftigen Schlange.