Beteiligte
Liturgie+Predigt: Pfarrer Betram Schirr
Konfirmand:innen: Mila, Carl
Lektor: Werner von Knoblauch
Musik: Kantor Christof Ostendorf
Predigt
Durch Mark und Bein, so sagt man. Wenn es mich erwischt. Mich berührt. Nicht alles Mögliche geht durch Mark und Bein. Aber Melodien können das. Der Klang eines bestimmten Instrumentes: Bei mir sind das Violinen.
Itzhak Perlman zum Beispiel. Der israelisch-amerikanischem Geiger ist bekannt als Virtuose und bekannt für eine Melodie für die kommenden Tage. Sie kennen sie sicher alle. Perlman spielt das Solo, die zentrale Melodie zum Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg. Diese Tönen sind untrennbar verbunden mit der Geschichte, dem Leid der jüdischen Menschen, mit Oskar Schindler. Er kollaborierte mit den Nazis, aber er rettete auch 1100 jüdische Menschen vor dem KZ. Wenn ich die Melodie nur angespielt höre, sehe ich genau das vor Augen. Die Melodie ist so stark, so tiefgehend, dann kräuselt meine Haut sich und ich bin getroffen.
In wenigen Tagen geht diese Melodie wieder durch die Medien, ergreift uns, wenn wir uns an den 9. November 1938, an die Reichspogromnacht und den Holocaust erinnern.
Doch es ist nicht die einzige Melodie, der jüdische Musiker Nur Ben Shalom hat neue Vertonungen erschaffen. Sie geben in der NS-Zeit ermordeten jüdischen Menschen, darunter auch Ben Shaloms Großtante, Salomea Och, heute Klang. Lebensmelodien heißen sie und das Projekt um sie. Denn sie ermöglichen ein Weiterleben, wo menschliche Stimmen zerstört wurden. Die Lebensmelodien sind mal traurig, mal froh. Sie sind akustisches Überlebenswerkzeuge.
Wir haben den Klang der Sauer-Orgel hier in der Glaubenskirche gehört. Auch er erinnert und verpflichtet uns. Auch unsere Orgel ist von dieser Zeit des Hasses gezeichnet. Die Nazis und die bekennenden Christen also Christen, die die Nazis unterstützten, waren in unserer Kirchengemeinde sehr stark. Sie ließen antisemitische Symbole auf die Orgel malen.
Wer weiß, dass jemand kunstvoll und mit Goldfarbe ein Hakenkreuz auf Orgelpfeifen gemalt hat, kann die Orgelklänge nicht mehr anders hören als verbunden mit dem Wahn der Nazis. In diesem Jahr haben wir es geschafft, die Sauerorgel fertig zu sanieren und wieder einzuweihen – ohne Nazi-Symbole! Wir haben angefangen die Geschichte der Gemeinde aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Wir haben angefangen bei diesen Pfeifen. Und wir machen weiter: Wir informieren historisch über die Nazi-Orgelpfeifen der Glaubenskirche. Sie sind nicht mehr sichtbarer und hörbarer Teil unserer Orgel. Von diesem Klang sind sie frei. Aber die Geschichte tragen wir weiter.
Wir werden die Klänge der Trauer und des Hasses, die vor fast hundert Jahren die Straßen und Kirchen durchfluteten nicht los. Sie scheinen heute aufzuleben, widerzuhallen. Aber wir haben unsere eigenen, anderen Lieder und Klänge, die etwas gegen Trauer und Hass stellen können.
Mit dieser Orgel, in der Kirche mit dieser Vergangenheit, werden wir an Silvester das wohl beliebteste Evangelische Kirchenlied: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ singen.
Seit ich ein Kind bin, lange bevor ich die ganze Geschichte von Dietrich Bonhoeffer verstanden habe, musste ich, durch die Melodie alleine, immer bei dem Lied weinen. Das auch heute noch so. So klingt das:
Orgel: Von guten Mächten
Dietrich Bonhoeffer hat das als Lebensmelodie geschrieben, 1944 in Gestapo-Haft. Es ist sein letzter theologischer Text vor seiner Hinrichtung am 9. April 1945. Bonhoeffer haben Lieder im Gefängnis geholfen. In ihnen konnte er leben. Die erinnerten Töne und sein eigenes leises Nachsingen wurden Stärke, wo er sich mit seinem Leben gegen Judenhass stellte.
Im einem der Vorgängerbauten für die Zelle von Bonhoeffer, vor zwei Jahrtausenden, saß der einflussreichste jüdische Mensch des sich formenden Christentums mit seinem Begleiter. Paulus und Silas. Sie mussten ihre Füße in Löcher in Holzblöcken stecken und da wurden sie festgemacht.
Paulus, Gelehrter, Römer, Jude, zu Jesus Bekehrter, Gesandter, wurde in Philippi, in Griechenland, gefangen genommen, weil er die römische Ordnung durcheinander gebracht hatte.
Paulus und Silas machen es wie Bonhoeffer, sie machen es wie Jesus. In der Tradition der widerständigen töne.
Jesus von Nazareth hatte das Gefängnis so zuerst durchlitten. Mit einem Lied in der Seele. Mit seinen Jüngerinnen und Jüngern hat er kurz vor seiner Verhaftung noch das sogenannte Hallel gesungen, beim letzten Abenmdahl. Das Hallel wird am jüdischen Pessachfest gesungen, am Fest der Befreiung aus der Sklaverei - das Lied der Befreiung. Auch die Leute um Jesus sangen Sätze aus den Psalmen 113 bis 118 wie: Meine Feinde tun ihr bestes, mich zu töten, aber mein Gott rettet mich. Und mit dem Singen fühlte es sich so an. Diese Töne, die hatte Jesus in sich aufgenommen. Das hat ihm Kraft gegeben und innere Freiheit.
Genauso singen Paulus und Silas. Ihre Töne dringen durch die Risse in den Wänden.
Und dann macht es, ich weiß nicht wie, BRAAAM oder es gibt ein steine-erschütterndes Dröhnen und sprengt die Tore auf. Gott stimmt ein. Gott wird seismisch.
Die Welt des Paulus kennt, was wir Erdbeben nennen, als Begleiterscheinung davon, dass Gott kommt. Materie reagiert als Resonanzkörper auf die schiere Macht Gottes. Wellen der Kraft machen den Weg nach draußen frei. Das ist die Hoffnung von zu Unrecht eingesperrten: Das Gute in der Welt setzt sich dröhnend durch und die Ketten rasseln splitternd dahin.
Religion und Glaube sind durchzogen von Lebensmelodien und von befreienden Klängen, mal laut, mal leiser. Dröhnen, Säuseln, Singen, Trompetentriumphe sind in der Bibel und im Christentum die Kraft des Klangs uns anzugehen, uns mit Vertrauen zu erfüllen, tiefer und mächtiger als Worte. Sie bewirken wirklich Befreiung und Veränderung. Sie halten die Toten am Leben, sie wehren dem Hass, sie versetzen dich und mich in eine Realität der Hoffnung. Sie machen Gottes Wirklichkeit wirklich spürbar, erzeugen Gänsehaut, gehen durch Mark und Bein wie Gott.