Beteiligte:
Liturgie & Predigt: Pfarrerin Anne Hensel
Lesungen: Charles du Vinage
Musikal. Leitung, Klavier: Kantor Jack Day
Violoncello: Danielle Akta
Predigt
Aus und vorbei. Er ist tot. Alle Hoffnungen, alle Träume, alle Pläne sind zunichte gemacht.
In der Blüte seines Lebens. Noch keine Mitte Dreißig war er. Viele Menschen haben ihn sehr geliebt.
Seit ungefähr zwei Jahren hatte er immer mehr um sich gesammelt und sie begeistert.
Seinen ursprünglichen Beruf und sein Zuhause hatte er an den Nagel gehängt und war mit seinen Freunden und Anhängern umhergezogen.
Um zu erzählen und erleben zu lassen, was eigentlich zählt: ein menschenfreundlicheres Miteinander.
Ohne ihn ist das alles jetzt unvorstellbar.
Und draußen blühen die Blumen.
Wie kann das Leben weitergehen? Er ist tot und alles ist schwarz, diffus, hinter einem Tränenschleier verborgen.
Wie kann er selbst von Vollendung sprechen? Das tut weh.
Und ein toter Gott trägt nichts mehr aus. Heldenverehrung und Legendenbildung im Nachhinein bringen nicht viel.
Auch Schuldzuweisungen nicht. Er ist den Tod eines Verbrechers gestorben, es war ein erstklassiger Justizmord.
Zwischen die Fronten der Macht geraten. Zu spät darüber zu diskutieren.
Und draußen blühen die Blumen.
Wir hätten noch so viel fragen wollen. Erfahren wollen. Erleben wollen. Mit ihm.
Choral (Melodie EG 361)
Was schreiben wir nun in die Traueranzeige?
Da ist ein Leben zu Ende gegangen. Von einem nahestehenden Menschen. Welche Überschrift wollen wir diesem Leben geben?
Was soll auf dem Grabstein stehen? Wie soll es aussehen? Welche Form und welcher Inhalt?
Wie drücken wir aus, wie fassen wir zusammen, was er oder sie für uns gewesen ist?
Wir setzen den Namen des oder der Verstorbenen in großen Lettern auf den Stein und in die Anzeige.
Und die Lebensdaten, vielleicht auch mit Orten. Die Herkunft ist uns oft wichtig: „geboren in...“
Und dann beschreiben wir vielleicht noch die Rolle, die derjenige für uns hatte –
unsere Mutter, Großvater, Bruder, Freundin… unsere Beziehung zu ihnen.
Soll der Beruf mit drinstehen? Lehrerin oder Arzt, Tischlerin oder Fischer, Richterin oder Journalist?
Wenn es wirklich ein Beruf war, also untrennbar und identifikationsstiftend zu diesem Leben gehörte, könnte es wichtig sein.
Ein Titel? Doktor oder Professor? Gehört eigentlich zum Namen – und vielleicht sind wir auch stolz darauf; oder sie selbst war stolz darauf.
Es ist meist nicht der Verstorbene selbst, der bestimmt, was dort geschrieben steht – es sei denn, er oder sie hat es schon zu Lebzeiten festgelegt. Sondern es sind die Angehörigen, bzw. die Auftraggeber, die festlegen, wie jemand erinnert werden soll. Was in Stein gemeißelt oder auf Papier gedruckt wird.
Diese Frage stellte sich für die Jünger Jesu nicht. Und in der jüdischen Trauerkultur gab es diese Bräuche auch nicht. Ein jüdischer Brauch ist das Kaddisch – ein Gebet, das zu vielen Anlässen gebetet wird und dessen Spuren sich auch in unserem Vaterunser finden. Es wird von den Nachkommen und Nachfolgern auch anlässlich des Todes gesprochen, gebetet, gesungen. Wir haben es vorhin instrumental gehört.
Keinen Grabstein also, keine Traueranzeige. Aber ich sehe da ein Schild, auf dem steht: Jesus von Nazareth, König der Juden.
Intermezzo: J. S. Bach: aus der Cellosuite Nr. II d-Moll, BWV 1008: Menuet I
Ich sehe ein Schild, auf dem steht: Jesus von Nazareth, König der Juden.
Nicht auf eine Trauerkarte gedruckt oder in den Grabstein eingemeißelt, sondern ans Kreuz geheftet.
Nicht die Zusammenfassung des Lebens, sondern „die Ursache seines Todes“, wie es heißt.
Und nicht von den engsten Angehörigen in Auftrag gegeben und formuliert, sondern von Pilatus, von der staatlichen Behörde angeordnet.
Und Pilatus besteht auch darauf, dass der Satz so bleibt. Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
Es war wohl – zumindest im Nachhinein – eine antijüdische Provokation, eine von vielen in der johanneischen Passionserzählung.
Jesus von Nazareth, König der Juden. Sein Name, seine Herkunft, die ihm zugeschriebene Rolle.
Weder seine nächsten Angehörigen, noch er selbst hätten wohl eine solche Beschreibung gewollt oder in Auftrag gegeben.
Was hätten sie wohl draufgeschrieben? Petrus oder Judas, Maria oder Johannes?
Der Freund, der Sohn, der Bruder. Der Geschichtenerzähler, der Heiler, der Tröster.
Oder, biblisch gesprochen: das Licht der Welt, das Brot des Lebens, der gute Hirte. Oder: der Weg, die Wahrheit und das Leben?
All diese Ehrentitel hat uns die Bibel überliefert – ohne dass er sie selbst verwendet hätte.
Aber so ist er wahrgenommen worden von Menschen, so hat er gewirkt, so hat er gelebt, so ist er geworden.
Und was würdest du darauf schreiben? Wer ist er für dich?
Seine Namen sind vielsagend. Jesus – jeschua – bedeutet hebräisch Hilfe oder Rettung.
Immanuel – wie er in der prophetischen Weissagung genannt wird – bedeutet: Gott mit uns.
Dieser Gott-mit-uns hängt am Kreuz und geht jämmerlich zugrunde.
Doch in der johanneischen Erzählung bleibt er – unfassbar – Herr des Geschehens, Souverän, und als solcher königlich.
Er liefert sich freiwillig aus, er trägt sein Kreuz selber, er ordnet seine Verhältnisse, er spricht von Vollendung:
Es ist vollbracht. Vollendet, nicht nur erfüllt – das griechische Wort sagt: Ins Ziel gekommen. Mission completed.
Es war so vorgesehen, es sollte so sein, er sollte so sein: Gott-mit-uns am Kreuz.
Und das Ziel, das Kreuz, wird gleichermaßen als Thron dargestellt, als Erhöhung.
Unbegreiflich und unfassbar fern ist mir das.
Wirklich Gott mit uns?
Doch! Es zeigt sich auf eine sehr anrührende Weise, kurz zuvor:
Jesus sieht seine Mutter und „den Jünger, den er lieb hatte“, seinen engsten Freund. Und er vertraut die beiden einander an.
Deine Mutter – dein Sohn. Seid füreinander da, weil ich nicht mehr für euch dasein kann.
Auch diese Botschaft richtet sich nicht nur an diese beiden Menschen, sondern an alle, die ihm nachfolgen wollen:
Seid füreinander da, denn so bin ich - so ist Gott - mit euch. Lebt in meiner Liebe, so lebt meine Liebe in euch.
Intermezzo: J. S. Bach: aus der Cellosuite Nr. III C-dur BWV 1009: Sarabande (Auszug)
Predigtabschnitt 3: Für alle – für dich
Ich sehe ein Schild, auf dem steht: Jesus von Nazareth, König der Juden.
Geschrieben in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache. Drei verschiedene Schriften, verschiedene Schriftzeichen.
Ich stelle es mir sehr kunstvoll vor, dieses geschriebene Schild.
Und es ist ein Manifest: es steht für die universale Geltung.
Auch das ist wahrscheinlich eine antijüdische Provokation, die sich nur beim Evangelisten Johannes findet,
und die Pilatus wohl nicht gewollt und nicht gemeint hat...
Hebräisch, Griechisch, Latein – das sind nicht exemplarisch oder ausgewählt drei Sprachen,
sondern es sind alle geläufigen Sprachen der Umwelt.
Allumfassend. Richtet sich an alle. Gott-mit-uns ist auch Gott-mit-euch.
Es widerspricht jeder Exklusivität und jeder Vereinnahmung.
Gott lässt sich nicht für eine Seite – und vor allem nicht gegen eine andere Seite – instrumentalisieren.
Gott spricht alle Sprachen und will alle Menschen erreichen.
Zugleich ist es auch sehr individuell: Gott stellt sich auf deine Sprache ein, auf das, was dich anspricht, womit er dich erreicht.
Er meint genau dich, denn auch du – bist sein geliebtes Kind.
Plötzlich sehe ich noch ein zweites Schild. Oder ist es die Rückseite?
Es ist ein Schild, das ich gut kenne. Gelb ist es… mit schwarzem Rand und schwarzer Schrift.
Auf so vielen Baustellen habe ich es schon gesehen.
Nie auf mich bezogen, zumindest in den letzten vierzig Jahren nicht.
Hat es auch etwas mit dem zu tun, der da am Kreuz hängt, haftet? Oder… mit mir?
Was steht denn auf diesem Schild?
„Eltern haften für ihre Kinder“. Kinder? Eltern haften… für ihre… Kinder? Haften? Am Kreuz?
Vater!… unser!… stammle ich.
Amen.
Intermezzo: J. S. Bach: aus der Cellosuite Nr. III C-dur BWV 1009: Sarabande (Auszug)