01.09
2024
08:50
Uhr

Bahnhof Zoo

An diesem einen Punkt konzentriert sich alles. Er zieht mich magisch an, jeden Morgen, wenn ich unterwegs zur Arbeit bin. Dann marschiere ich mit den Massen aus dem U-Bahn-Schacht. Gedränge, Eile, Ausweichen und gleich am frühen Morgen die erste Dosis Armut, Dreck und Alkohol. Die Heimatlosen vom Bahnhof Zoo quer durch den Bahnhof eine Dauerbaustelle. Geht es weiter nach oben zur S-Bahn?
Oft stehe ich nicht länger da als 1 bis 2 Minuten. Aber immer stehe ich am selben Punkt und suche dieselbe Sichtachse. Ich sehe durch die Glasfenster rüber zum Zoo Garten. Hier war ich oft als Kind. Später dann mit meinen Kindern. Ich habe Knut den Eisbären erlebt und die kinderlosen Pandas. Rechts davon der Zoo Palast. Ein Hauch von Glamour, rotem Teppich, Berlinale Feeling.
Schon meine Mutter und Großmutter haben hier Film Sternchen bewundert und Autogramme gesammelt. Daneben die Skyline eines Hotels, das sich hoch in den Himmel schraubt. Viel höher noch als der kaputte Turm der alten Gedächtniskirche, das Wahrzeichen von Westberlin. Wenn ich Glück habe, läuten sogar die Glocken. Es ist für mich das schönste Geläut von ganz Berlin. Der Klang vibriert, die Glocken gehen direkt ins Herz.
Hier durfte ich predigen, habe wunderbare Konzerte erlebt, habe Luft geholt in der lebendigen und lauten und immer auch ein wenig kaputten Stadt hinter den blauen Fenstern der neuen Kirche, unter dem schwebenden goldenen Christus, der segnend die Hände ausbreitet. Hier haben mein Mann und ich letzten Sommer Silberhochzeit gefeiert. 25 Jahre Kinder. Wie die Zeit vergeht! Ich stehe an diesem einen Punkt auf dem Bahnsteig und fliege in Gedanken durch die schöne und traurige und bewegte Geschichte dieser Stadt und durch die Zeit.
Bin wie das Kind von damals mit der Bahnsteigkarte aus Pappe in der Hand. Die muss man früher bei der Reichsbahn kaufen, wenn man jemanden vom Zug abholen wollte. Damals, als die Mauer noch stand. Winke Gebühr. Vollkommen verrückt. Bald 50 Jahre ist das jetzt her. Die Bahn rollt ein. Ich steige ein und fahre weiter im Strom der Zeit. 


1000 Jahre sind vor dir, Gott. Wie der Tag, der gestern vergangen ist. 

Die Bibel. Psalm 90, 4.