Es kurz vor 8 Uhr morgens. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die Eingangstore des Görlitzer Parks. Mein Ziel ist der ehemalige Pamukkale-Brunnen. Von hier oben hat man einen schönen Blick über die Gegend. Was früher an ein berühmtes Naturdenkmal in der Türkei erinnern sollte, an weiße Kalksteinterrassen, ist heute ein Kreuzberger Amphitheater, grün bewachsen, und bunt besprüht.
Die Bühne ist der Weg, der durch den Park führt, die Kulisse sind die alten Lokschuppen. Fahrradfahrer sind unterwegs – manche mit Kinderanhänger, Joggerinnen mit Ohrstöpseln, Spaziergänger und Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Viel Bewegung ist hier um diese Uhrzeit, der Görli wirkt lebendig und friedlich.
Aber von hier oben sehe ich auch seine anderen Seiten. Ich sehe die BSR-Mitarbeiter, die die Mülleimer leeren und die Überbleibsel des gestrigen Abends beseitigen - ich kenne kaum einen Ort mit so vielen Mülleimern und doch so viel Müll rundherum. Meine Augen finden Menschen, die hier die Nacht verbracht haben, und etwas desorientiert herumlaufen und nach Zigarettenstummeln suchen, um sie aufzurauchen.
Ich erlebe hier: Wie dieser Park ist das Leben nicht einseitig. Nie nur schön oder nur schwierig. Nie nur geordnet oder nur chaotisch. Hier ist alles gleichzeitig da – Familien und Obdachlose, Streichelzoo und Kriminalität, Aufbruch und Erschöpfung.
Hin und wieder treffen wir uns an diesem Ort mit einer kleinen Gruppe, um gemeinsam den Tag zu beginnen. Wir hören die U-Bahn über die Hochgleise rumpeln, Kirchenglocken läuten, Vögel zwitschern und manchmal reden Menschen laut vor sich hin. Im Hintergrund schaut durch die Bäume der Fernsehturm auf uns herab. Und wir lesen miteinander Texte aus der Bibel, alte Texte, die vom Unterwegssein und vom Ankommen sprechen, von Sorgen und von Hoffnungen, und die so gut passen an diesen Ort – verwundet und irgendwie auch heilig.
„Meine Not ist groß, ich habe keine Heimat mehr. Schon der Gedanke daran macht mich bitter und krank. (…) Aber eine Hoffnung bleibt mir noch, an ihr halte ich trotz allem fest: Die Güte des Herrn hat kein Ende, sein Erbarmen hört niemals auf, es ist jeden Morgen neu!“ Die Bibel, Klagelieder Jeremias, Kapitel 3.