20.10
2024
08:50
Uhr

Der Wrangelkiez

Echte Nachbarschaft inmitten der anonymen Großstadt

Ein Beitrag von Holger Rehländer

Langsam, langsam – So begrüßt mich Bogdan manchmal. Er ist einer meiner Nachbarn, wohnt mal hier, mal dort. Im Hofeingang, vor meiner Kirche, selbst im Baugerüst nebenan. Tagsüber schiebt er sein Fahrrad mit den Habseligkeiten durch die Gegend, oder sitzt am Straßenrand mit seinen Leuten. 

Langsam, langsam – wohl die einzigen deutschen Worte, die Bogdan kann. Unsere restliche Kommunikation: Zeichensprache. Ihm ist kalt, er braucht Handschuhe, das funktioniert auch ohne Worte. Er hat Hunger und freut sich über die Essensausgabe, auch. 

Drei Jahre habe auch ich hier im Wrangelkiez gelebt. Eine Gegend mit zwiespältigem Ruf, zwischen Schlesi und Görli, zwischen Hochbahn und Kanal. Für mich mittlerweile: Heimat. Ja, ein Fahrrad und ein E-Piano sind mir geklaut worden. Ja, immer wieder räumen wir Drogenbesteck und Abfall vor der Kirchentür weg. Und oft genug wird die Nachtruhe gestört.

Und doch habe ich hier, mitten in der „anonymen Großstadt“ gelernt, was Nachbarschaft heißt. 

Im Imbiss höre ich: Na, Habibi, alles wie immer? Eine Nachbarin hat uns ihre Blumen zur Urlaubspflege überlassen. An einen verstorbenen Obdachlosen wird mit ökumenischem Gottesdienst und Kiezkaffeetafel gedacht. Und nach meinem Urlaub begrüßt mich der Straßenzeitungs-Verkäufer mit: Wo warst du denn? Ich habe dich echt lange nicht gesehen. 

Manchmal ruft Bogdan auch „Hallo Papa“ über die Straße, wenn er mich sieht. Ob das seine normale Anrede für einen Priester ist, weiß ich nicht. Aber irgendwie habe ich dann das Gefühl, Teil einer großen Familie zu sein, der Kiezfamilie.

Und das macht Nachbarschaft für mich aus. Man weiß, dass man zusammengehört, weil man in derselben Gegend sein Leben verbringt, weil man sich immer wieder sieht und irgendwie auf die eine oder andere Art aufeinander achtet. So ganz alleine ist man hier im Wrangelkiez nie. Und ich glaube: Gott ist auch mittendrin.

Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Die Bibel, das Buch der Offenbarung, Kapitel 21, Vers 3.