Mein Büro ist direkt neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Dort ist auch das Grab der Familie Hofmann. Es ist groß und aus gelben, weißen und braun glasierten Ziegeln. Friedrich Hofmann hatte den Ringofen erfunden, in dem man – vor 150 Jahren – die Ziegel aus Ton und Lehm brennen konnte, aus denen Berlin gebaut ist.
In dem Grab ruhen Bertha und Friedrich Hofmann und ihre Kinder: Agathe, Eda, Fritz und Hans. Binnen vier Monaten, 1855, hat das Ehepaar seine vier kleinen Kinder zu Grabe getragen. Alle vier sind an Scharlach gestorben!
Direkt neben dem Friedhof liegt die Charité. Hier wurde und hier wird geforscht, so dass heute niemand mehr an Scharlach sterben muss. Ich bin sehr froh darüber!
Bei jedem Kind stehen auf dem Grab nicht nur Geburts- und Sterbedaten, sondern auch ein Hinweis auf eine Bibelstelle.
Bei Agathe steht: Joh, 14,2, also Johannes, 14. Kapitel, 2. Vers. Ich schlage natürlich nach und dort steht: „Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten?“ Es ist Jesus, der es sagt. Und ich stelle mir vor, wie er die sechsjährige Agathe dort empfängt – genau so, wie man jemanden empfängt, auf den man lange gewartet hat.
Ich lese weiter. Bei Eda steht Psalm 60, der 19. Vers. Und ich schlage wieder nach. Jedoch: Diesen Vers gibt es nicht! Der Psalm 60 hört nach Vers 14 auf.
Mh, eine Schlamperei vielleicht, als das Grab renoviert wurde? Ein befreundeter Restaurator – er geht extra für mich hin – hält das für ausgeschlossen.
Also sind die Zahlen schon so in Auftrag gegeben worden.
Was, wenn es gar kein Fehler ist?
Sondern ein Hinweis darauf, dass wir Lebenden eben noch nicht alles sehen. Nur Eda, sie kennt ihn schon – und all das, was uns allen noch verborgen ist: Jenen 19. Vers in Psalm 60.
Oder in den Worten des türkischen Dichters Nazim Hikmet: „Das schönste Wort ist noch nicht gesagt.“