24.11
2024
08:50
Uhr

Ein weißes Fahrrad

Jeden Morgen dieselbe Strecke: mit der Tram ab Alexanderplatz zum Friedrichshain. Volkspark, rechts die schöne rote Backsteinkirche - rundherum tosender Verkehr. Diese Stadt ist immer alles zusammen. 
Und dann ändern sich Orte. An einem Morgen Vollsperrung: Polizei und Krankenwagen – ein Rettungshubschrauber hebt gerade ab. Quer über der Fahrbahn steht ein LKW, ein geschrottetes Fahrrad liegt daneben. Instinktiv weiß ich: Hier ist etwas Schreckliches passiert. Diese Kombination kann man nicht überleben. Wenig später dann Gewissheit. Nur 1 h vorher ist ein Mensch hier auf diesem Weg zur Arbeit um‘s Leben gekommen. Eine Radfahrerin durch einen Linksabbieger. LKW gegen Mensch. Keine Chance. Ein Kollege von mir wurde Zeuge des Unfalls. Wir alle sind geschockt. Ein paar Sekunden, die alles verändern.
Die Angst davor kennt jeder in einer Riesenstadt wie Berlin, wo so viele Menschen jeden Tag unterwegs sind zu Fuß, mit dem Auto, mit der Bahn oder dem Roller. Fast immer in Hektik. Meistens passiert nichts. Oft haben wir einen Schutzengel. Manchmal nicht. Was für ein Leben steht hinter dem Opfer? Was geschieht mit den Angehörigen? Jetzt erinnert ein weißes Fahrrad an die Frau erinnert, die hier an diesem Ort ihr Leben verlor. Sie war Orchestermusikerin, spielte Posaune, sie war 55. Mehr weiß ich nicht. Der Verkehr fließt weiter wie immer. Eine Radspur gibt es mittlerweile – immerhin.
Nach einem Jahr werden die weißen Fahrräder weggeräumt. So lautet die Vorschrift. Für mich hat sich der Ort für immer verändert an diesem Morgen. Ich denke an die Frau auf ihrem Fahrrad – unterwegs durch Ihren Alltag so wie ich. Ich bitte, dass sie geborgen ist und ihre Angehörigen gehalten – und dass wir achtsam bleiben: auf uns und aufeinander.          
 
Der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. Er behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit. Psalm 121, Vers 7 & 8