10.11
2024
08:50
Uhr

Gleis 17

Ein Beitrag von Hendrik Kissel

Einmal im Jahr zieht es mich an einen ganz stillen Ort in Berlin. Die S-Bahn bringt mich direkt dorthin, wo heute kein Zug mehr fährt. Die Gleise überwuchert, die Schienen von Bäumen umgeben. Ich meine das Gleis 17 am S-Bahnhof Grunewald. 

Ein Platz, der von unserer deutschen Geschichte geprägt ist. Davon erzählen die vielen Inschriften, die ich inzwischen gut kenne. Hier, bei in die Eisenbahnschienen sind Zahlen eingeritzt. Es sind die Zahlen vieler Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, die von Herbst 1941 bis Frühjahr 1942 mit Zügen der Deutschen Reichsbahn aus Berlin deportiert wurden. 10.000 Jüdinnen und Juden wurden von hier aus deportiert – nach Riga und Warschau, Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt. Mitten in dieser Stadt. Hier wird mir wirklich bewusst, was damals geschehen ist. Und ich bin jedes Mal sprachlos und betroffen und beschämt von diesem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. 

Gestern war ich nicht da. Am 9. November, dem Gedenktag an die Pogrome, ist es dort nicht ruhig. Es gibt Gedenkveranstaltungen. Viele Menschen sind dann dort. Das Gleis ist voll. Ich schätze die Stille und gerade die Gelegenheit, alleine dort zu sein. An einem äußerlich schönen, fast verwunschenen Ort, der aber tatsächlich vom Grauen erzählt. Die Zeit dort ist für mich ein Moment des Gebets. 

Wenn ich dann wieder das Stück Kopfstein gepflasterte Straße nach unten zum S-Bahnhof zurück gehe und an den umliegenden Cafés vorbeiziehe, wo das Leben zuhause ist, habe ich Zeilen aus einem alten Lied im Ohr. Sie begleiten mich, wenn ich wieder in das Gewimmel der anderen Menschen im S-Bahn-Tunnel ein- und aus der Erinnerung auftauche. 

Es ist ein Lied aus der Bibel. Es greift meine Stimmung auf: 

Die Wut und das Entsetzen über das unvorstellbar Böse, zu dem Menschen fähig sind - und mein Vertrauen in Gottes Dasein in der Welt. Ich bin gern an diesem Ort. Er gehört zu meiner Stadt, auch wenn es ein trauriger Ort ist. Wenn ich gehe, bin ich hoffnungsvoll und motoviert, alles dafür zu tun, dass es nie wieder so weit kommt. 

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! 

Psalm 130, 1-2