01.06
2025
08:40
Uhr

Modersohnbrücke

Ein Blick in die Ferne – Wie ein Sonnenuntergang auf der Modersohnbrücke den Horizont erweitert

Ein Beitrag von Lukas Hetzelein

„Komm, wir gehen uns den Sonnenuntergang anschauen“. Vor über zehn Jahren hat mein Bruder das zu mir gesagt, als ich ihn in Berlin besucht habe. Und ich dachte mir: Sonnenuntergang – das ist doch was für Urlaub am Meer! Wir aber saßen auf der Modersohnbrücke, die den Rudolfkiez mit dem Boxhagener Kiez verbindet. 
Unter der Brücke: ein breites Schienenbett, Züge rauschen hindurch. An den Seiten links und rechts der Brücke: Firmengelände und heruntergekommene Baracken. Absperrgitter stehen vor der Brüstung. Der Blick auf den Sonnenuntergang ist also durch die Maschen des Absperrzauns gefiltert. Nicht besonders romantisch.
Und doch: An schönen Tagen ist der Andrang zum Sonnenuntergang so groß, dass es gar nicht so einfach ist, einen Sitzplatz zu bekommen. Viele Menschen nehmen Platz auf dem Balken zwischen Fußgängerweg und Fahrbahn. Die meisten haben etwas zu trinken dabei, es ertönt Musik. 

Die Wolkenformationen sind oft spektakulär und leuchten in knalligen roten oder rosanen Farben; in den Fenstern der Bürotürme spiegelt sich das Licht; das Panorama umfasst die Warschauer Brücke, den Fernsehturm, die Clubs entlang der Revaler Straße und die Hochhäuser rund um die Eastside-Gallery. So stimmt es also: Die Modersohnbrücke ist der perfekte Ort für einen Berliner Sonnenuntergang: Der Blick ist viel weiter als sonst in der dicht bebauten Stadt. 

Ich kann meinen Horizont im wahrsten Sinne des Wortes erweitern und mich als Teil von etwas Größerem Erkennen. Das hilft mir, wenn ich mich im alltäglichen Klein Klein verliere und Nebensächlichkeiten viel zu wichtig nehme. Der Blick in die Ferne lässt mich das Wesentliche sehen. Und auch dankbar sein für das viele Gute, was mir geschenkt ist und mir Tag für Tag begegnet. 

Im Alten Testament heißt es: Die leuchtende Sonne blickt auf alles hernieder / und von der Herrlichkeit des Herrn ist sein Werk erfüllt. (Jesus Sirach 42,16). 
Und deshalb sage auch ich mittlerweile zu meinem Besuch: Komm, wir gehen auf die Modersohnbrücke und schauen uns den Sonnenuntergang an!