Das Herz schlägt in der Mitte des Körpers.
Und so ist es auch mit Berlin. Das Herz schlägt in Mitte. Da, wo vor fast 800 Jahren Berlin geboren wurde. An einem Ort habe ich immer das Gefühl, ich könnte den Herzschlag dieser Stadt besonders gut hören. Dafür muss ich vom Alexanderplatz die Grunerstraße überqueren, um ins Klosterviertel zu gelangen.
Kaum ist die Straße überquert stehe ich am Eingang zum Klosterviertel. Der Blick sofort auf die Parochialkirche. Unübersehbar, dass der Turm jünger ist als der Rest des Bauwerks. 2016 wurde er aufgesetzt. 52 Bronzeglocken hängen in einem extra eingerichteten Geschoss und erzeugen ein Spiel, das so sanft und herzöffnend ist, dass mir bei jedem Hören die Tränen kommen.
Wenn ich auf die Parochialkirche zugehe, merke ich, dass sich etwas an mir verändert.
Es liegt daran, dass hier niemand mehr etwas von mir will. Die Stadt nicht und ihre Menschen auch nicht.
Der Modus meiner Bewegung verändert sich. Ich durchquere nicht mehr schnell einen Raum, um von A nach B zu gelangen, wie so oft in Berlin. Hier bewege ich mich im Raum. Werde mir meines Herzschlags bewusst. Es ist, als ob sich hier der Herzschlag Berlins mit meinem eigenen Herzschlag verbindet.
Irgendwann ist mir ein Gedicht von Rainer Kunze begegnet, das dem Gefühl auf dem Weg zur Parochialkirche Worte verleiht. Es heißt: „Fast ein Gebet“ und geht so:
Wir haben ein Dach
Und Brot im Fach
Und Wasser im Haus,
da hält man’s aus.
Und wir haben es warm
Und wir haben ein Bett
O Gott, dass jeder dies alles hätt.
Brot, Dach, Bett und Wasser. Alles genauso elementar und wesentlich wie der Herzschlag. Berlin ist laut und oft auch chaotisch. Es gibt viele Menschen, die kein Dach und Bett haben in dieser Stadt. Berlin muss viel tragen, auch ertragen. An der Parochialkirche spüre ich, warum das möglich ist trotz alledem. Berlins Herz schlägt in ruhigem Takt. Der Ur-Rhythmus ist immer gleich.
„Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist bereit, dass ich sing und lobe.“
Die Bibel, Psalm 62