12.10
2025
08:40
Uhr

Tränenpalast

Vom Privileg geöffneter Grenzen

Ein Beitrag von Christoph Kießig

Er steht in der Menschenmenge, dicht gedrängt. Vor ihm klammert sich ein Kind weinend an seine Mutter, neben ihm hält sich eine alte Frau mit Mühe auf den Beinen. Dahinter eine Familie, schweigsam mit leeren Gesichtern und vollgepackten Koffern. Überall stehen Grenzpolizisten, Wachposten mit versteinerten Mienen. Am Anfang der langen Schlange aus Menschen sieht er schon das Tor, das in eine andere Welt führt, in ein neues Leben. So hoffen die meisten, die hier stehen. 

Es ist schon warm im März 1974 hier in Berlin hinter dem S-Bahnhof Friedrichstraße. Die Glasfassade leuchtet einladend in der Sonne, als wäre sie das Panorama einer Vergnügungsgaststätte. Doch das, was sich im Inneren verbirgt, ist alles andere als einladend oder vergnüglich. Darum wird dieses Gebäude im Volksmund bald nur noch der Tränenpalast genannt.

Die zentrale Grenzübergangsstelle von Ost nach West besteht neben der großen Halle aus einer Vielzahl unübersichtlicher Gänge, Tunneln und Brücken, die zu den Bahnsteigen der S- und U-Bahn führen. Mit ihnen kommen täglich hunderte Menschen zu Besuch in den Osten oder reisen aus. In der Gewissheit, dass sie nicht zurückkehren, und ihr Leben, ihre Freunde und Familien zurücklassen.

Ich sehe mich als Kind mit meiner Großtante in der Schlange stehen, als Jugendlicher Freunde aus dem Westen erwarten, Kollegen von drüben dort verabschieden. Immer wieder zurückgelassen mit der Fassungslosigkeit, dass an dieser Tür die Welt für mich und viele andere zu Ende ist.

Das ist zum Glück Geschichte. Wir haben gerade wieder den Jahrestag gefeiert. Das Ende von Teilung und Trennung, die Einheit, und ja, wir haben Grund zu Freude und Jubel, auch wenn diese Einheit immer eine Aufgabe und Herausforderung bleibt. Der Tränenpalast ist heute ein Museum, die Geschichte aber wiederholt sich an anderen Orten, anderen Grenzen mit anderen Menschen und der gleichen Angst und denselben Tränen.

Wir haben das Wunder erlebt. Mauern, die fallen und Grenzen, die verschwinden. Unsere Geschichte sollte uns Ansporn sein, dafür zu sorgen, dass in Zukunft vor allem Freudentränen fließen.

“Ja, groß hat der HERR an uns gehandelt. Da waren wir voll Freude. Wende doch, HERR, unser Geschick! Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.”

Die Bibel, Psalm 126