Über dem Wasser hängen Nebelschwaden, die Sonne geht gerade auf, am Uferstreifen im Schilf hört man die ersten Vögel. Sonst ist kaum ein Geräusch zu hören und so gleiten wir lautlos durch Berlin auf dem Landwehrkanal. Ich kenne mich gut aus in der Stadt - zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Auto und auch mit Bus und Bahn, aber hier auf dem Wasser aus dem Boot heraus sieht alles ganz anders aus: wir durchqueren eine völlig neue Welt.
Es ist noch sehr früh, als wir das Faltboot zu Wasser lassen und deutlich dröhnen die Bässe aus dem Club am Ende der Stadtautobahn am Plötzensee zu uns herüber. Wir fahren durch eine noch schlafende, völlig andere Stadt. Unterqueren Straßen, über die wir schon 1000 mal gefahren sind, entdecken Brücken, die wir von oben noch nicht einmal bemerkt haben. Vorüber an kleinen Biotopen, aber auch an Obdachlosensiedlungen, versteckt vor der Stadt an den Uferstreifen des Kanals. Eine ganz neue Perspektive auf diese laute und oft auch aggressive Metropole. Zwischen alten Fabriken, herrschaftlichen Bürgerhäusern und neuer Architektur fließt eine ganz andere Wirklichkeit.
So oder ähnlich erlebe ich das auch mit dem Strom meines Lebens. Unter all der Hektik und Aufregung unseres Alltags, abseits vom Lauf der Dinge, neben der Routine, jenseits der eingefahrenen Wege, die ich alle schon kenne, gibt es eine Wirklichkeit, die mein Leben durchströmt. Ich muss sie nur entdecken. Die Perspektive wechseln und mich raus trauen aufs Wasser. Den festen Boden verlassen und mich tragen lassen. Abstand nehmen von dem, was ich kenne und was mir sicher erscheint. Staunend entdecke ich mich und die Welt um uns herum neu.
Jesus stieg in das Boot, das dem Simeon gehörte, und bat ihn, ein Stück weit vom Land wegzufahren. Dann setzte er sich und lehrte das Volk vom Boot aus.
Die Bibel, Evangelium nach Lukas, Kapitel 5, Vers 10