Jesus in der Krippe Jesus in der Krippe
Jesus in der Krippe
26.12
2024
10:00
Uhr

Sage, wo ist Bethlehem?

Über das göttliche Kind in uns

Ein Beitrag von Ludger Verst

Musik | Littlemore Tractus — Tõnu Kaljuste

Sprecher: Ich bin des so gewiss, wie dass ich ein Mensch bin, dass mir nichts so nahe ist wie Gott. Gott ist mir näher als ich mir selber bin; mein Sein hängt daran, dass Gott in mir nahe und gegenwärtig ist [1], …

Autor: … sagt Meister Eckhart in einer seiner mystischen Schriften. Ein nahezu unglaubliches Selbstbewusstsein, das aus solchen Worten spricht: Gott und Mensch sind sich wie selbstverständlich nahe? Woher nimmt der große Mystiker des Mittelalters, Meister Eckhart, solche Selbstgewissheit?

Dieser Frage möchte ich heute am zweiten Weihnachtstag genauer nachgehen. Lässt sich das, was Menschen mit Weihnachten verbinden, was sie mit diesem Fest sich wünschen und vielfach auch ersehnen, in einem solchen Gedanken, wie Eckhart ihn formuliert, heute noch auf den Punkt bringen? — Muss denn Weihnachten überhaupt erklärt werden? Ist dieses Fest nicht längst mit Erklärungen, mit Erwartungen und Sehnsüchten überfrachtet? Ich möchte es genauer wissen: Was verbindet ihr, was verbindest du mit Weihnachten?

Musik | Nahe wollt der Herr uns sein

Marlene: Der zentrale christliche Gedanke zu Weihnachten ist für mich einfach so diese Verbundenheit mit meiner Familie, aber auch so, dass man dankbar ist für alles, was man so hat.

Paula: Vielleicht aber auch die Verbundenheit zwischen den Menschen generell und auch den Christen, weil wir alle irgendwie zusammen als Familie dadurch auf der Welt existieren.

Moritz: Grundsätzlich hat sich ja das Weihnachtsfest eher vom Glauben wegbewegt und Menschen legen eher Wert auf Geschenke und alles, was zu Weihnachten eben dazugehört: Weihnachtsbaum, und den Weihnachtsbaum schmücken und diese ganzen Dinge, und vielleicht ist es ja mal interessant zu wissen, wie eben der Glaube mit Weihnachten noch in Verbindung steht.

Autor: „Verbundenheit, „Familie“, „Geschenke“ — zu Weihnachten entwickeln Menschen offensichtlich eine besondere Sensibilität für das, worauf es ankommt, wenn man so über sich und sein Leben nachdenkt. Und doch habe sich Weihnachten als Fest „vom Glauben eher wegbewegt“, sagt Moritz. — Warum eigentlich?

Religion und Glaube werden von vielen als etwas Fremdes wahrgenommen, als etwas, das ihnen fernliegt. Die jüngste Mitgliedschaftsuntersuchung der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland kommt hier zu verblüffenden Ergebnissen: Die Mehrheit der Bevölkerung stuft sich selbst als nicht religiös ein. Die Studie zeigt ungeschönt das Ausmaß religiöser Gleichgültigkeit. Für mittlerweile 56 Prozent der Deutschen besitzt Religiosität gleich welcher Art keine bzw. nur noch eine verschwindend geringe Relevanz für die Lebensführung. Und: „Zwei Drittel der Kirchenmitglieder teilen kein spezifisch christliches Gottesbild mehr“ — ein Trend, der nicht neu ist, aber sich verschärft. Immer weniger Menschen, die glauben oder glauben wollen, stellen sich Gott noch als allmächtige Instanz, als souveränen Agenten in einem quasi-raumzeitlichen Jenseits vor. Oder als einen Gott, der sich als Kind in eine Krippe legt. Die Botschaft von Weihnachten klingt wie von einem anderen Stern; es scheint, als könnten wir auf unserem Planeten ganz gut auch ohne sie auskommen. Der Stern von Bethlehem, das Frohlocken der Engel, das Kind in der Krippe — sie gehören zu einer langen Tradition, aber die Symbolik ist fremd und für viele irrelevant geworden. 

Musik | Ingo Bredenbach: Sage, wo ist Bethlehem?

Autor: „Musst nur gehen, musst nur sehen: Bethlehem ist jetzt und hier.“ — Eine erste Einsicht könnte sein: Das Geschehen in Bethlehem vor etwa 2000 Jahren hat einen neuen, auch heute noch gültigen Anfang gesetzt, wenn wir es nicht auf ein Ereignis von damals engführen wollen und dadurch missverstehen. „Bethlehem ist jetzt und hier.“ Will sagen: Noch heute zählt, was einst geschah, weil es als ein Versprechen lebendig ist — als Faszination und Zumutung zugleich —, wie das eben für Neuanfänge typisch ist.

Sprecher: Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. (…) Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. (…) Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. (…) Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die (…) aus Gott geboren sind.“ (vgl. Joh 1, 1-13)

Autor: Was der Johannes-Prolog auf poetisch einzigartige Weise präsentiert, deutet auf einen Anfang hin, mit dem man im ausgehenden ersten Jahrhundert, zur Entstehungszeit dieses Evangeliums, bereits Erfahrungen gemacht hat. Im Anfang, „in principio“, ist GOTT — ein grundsätzlicher, in allem mitlaufender Anfang, der alles Lebendige hervorbringt, aber auch auf Unverstand und Widerstand stößt. Das scheint typisch zu sein: Neues und Unberechenbares machen Angst. Schon von Herodes heißt es, dass er durch das, was sich in Bethlehem ereignete, Angst um seine Rolle als König gehabt haben soll. Auch die Erfahrungen der ersten Christengemeinden spielen sich ab zwischen Faszination und Widerstand. 

Anfänge lebendig zu halten, das geht nur, wenn in jedem, der anfängt — oder von Neuem anfängt —, dieser erste, göttliche Anfang mitgeht. Das ist der Anspruch von Weihnachten: Im Anfang war das Wort … und das Wort war Gott. Und: Das Wort ist Fleisch geworden: Gott nimmt in Jesus die Gestalt eines Menschen an. Gott wird Mensch — ein für allemal. Ein unerhörter Gedanke. Bethlehem ist jetzt und hier. Jetzt und hier werden Menschen aus Gott geboren. Immer schon stehen Menschen in der Würde — der Prolog nennt es „Macht“, Kinder Gottes zu werden. Das ist die faszinierende Aktualität von Weihnachten: dass das Kind in der Krippe ich selber bin. 

Musik | Jóhann Jóhannsson: Flight From The City

Autor

Es gibt etwas in uns, das so frisch, so lebendig, so offen und so unschuldig ist wie dieses Jesuskind in der Krippe. Wenn Menschen Erfahrungen machen, von denen sie den Eindruck haben, dass sie etwas ganz Wesentliches und Wichtiges von sich ausdrücken, dann finden sie häufig keinen treffenderen Vergleich als zu sagen, dass sie sich jetzt wie ein Kind fühlen. Sie meinen damit eine besondere Empfänglichkeit und Sensibilität für das, was sie umgibt. Sie meinen damit einen Zustand, in dem sie glücklich sind, einfach da zu sein, mühelos, neugierig, liebevoll, in engem, unmittelbarem Kontakt mit ihren Fantasien und Eingebungen, mit ihren Gefühlen und Wünschen, mit ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen.

Was wir da erleben, spüren oder ahnen, ist nicht nur anfangs in der Kindheit mal vorhanden gewesen und dann für immer verloren gegangen, sondern es ist die Erfahrung unserer wahren, immer gegenwärtigen innersten Natur, in der wir selbst ganz einfach, ganz offen und natürlich sind, voll lebendiger Intensität für das, was uns begegnet. Es sind diese wachen, nicht machbaren Momente, die unverfügbar uns geschenkt werden, die uns in Berührung bringen mit dem göttlichen Kind in uns

An der Oberfläche mag unsere Gestalt sich ändern, wir werden älter, sammeln Wissen und Erfahrungen, mögen uns irren und uns manchmal selber fremd erscheinen —, das Kindliche aber, der schöpferische Impuls des göttlichen Anfangs in uns wird wirksam bleiben. Es ist dieses „Seelenfünklein“, von dem Meister Eckhart sagt, es sei die Kraft, die uns in jedem Lebensalter und zu jeder Zeit mit dem Göttlichen vereine.

Musik | Jóhann Jóhannsson: The Burning Mountain

Autor: Das „göttliche Kind“ findet sich als ein psychologisches Motiv auch in der Mythologie, in Kunst und Literatur und vor allem in Träumen. Die Tiefenpsychologie — vor allem die von Carl Gustav Jung — entdeckt in ihnen wesentliche, immer wiederkehrende Elemente, die sich in ihrer universellen Form menschheitsgeschichtlich lesen und verstehen lassen.

Das uralte Symbol des „göttlichen Kindes“ entsteht aus unserer Seelentiefe, wenn es zur persönlichen Weiterentwicklung benötigt wird. Die Tiefenpsychologie beobachtet, dass es sich bei jedem und jeder nach sehr dunklen persönlichen Krisenzeiten konstellieren kann. So wird oft nach Zeiten der Regression mit depressiven Stimmungen, Lust- und Interesselosigkeit aus dem Archetyp des göttlichen Kindes etwas faszinierend Neues geboren. In solchen psychischen Situationen entdecken Menschen plötzlich „göttliche Kind-Energien“ in sich oder ihrer Umgebung. 

Etwas ganz Ähnliches bezeichnet Meister Eckhart schon im Übergang vom 13. ins 14. Jahrhundert mit dem durch ihn bekannt gewordenen Begriff der Gottesgeburt in der Seele. Gemeint ist, dass der Mensch die Göttlichkeit seiner eigenen Natur entdeckt, indem er in seinem Innersten, der Seele, die Gottheit erkennt. Die Gottesgeburt geht vom Seelengrund des einzelnen Menschen aus und ergreift die Seele in ihrer Gesamtheit. Darin besteht für Eckhart der Sinn und Zweck der Schöpfung. Erst durch die Gottesgeburt in der Seele erhält die Geburt Jesu in Bethlehem für den Menschen einen Sinn. 

Sprecher: Man soll Gott nicht außerhalb von einem selbst erfassen und ansehen, sondern als „mein Eigen“ und als das, was in einem ist. Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort und sie hier. So ist es nicht. Gott und ich, wir sind eins. Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen gehe ich in Gott ein ... Gott und ich, wir sind eins in diesem Wirken: Er wirkt und ich werde.[2]

Musik | Jóhann Jóhannsson: A Sparrow Alighted Upon Our Shoulder

Autor: Das Weihnachtsfest könnte unter diesem Aspekt zu einer neuen, befreienden Botschaft werden. Der gesamte Lebensweg Jesu spiegelt das Drama der Menschwerdung Gottes, das sich nicht nur in einem vergangenen historischen Geschehen damals in Israel ereignet hat, sondern das sich immer wieder neu mit jeder Geburt und mit jedem Lebensprozess in jedem Menschenwesen vollzieht.

Leonie: Ich finde das Spannende daran, dass ich das auf jeden Fall mit Freiheit auch assoziiere, weil man eben nicht an diese Normen der Gesellschaft gebunden ist und man eben ein eigenständiges Wesen sein kann.

Charlotta: Vielleicht aber auch, dass eben jeder gleich-berechtigt und eben diese Würde besitzt, die niemandem abgesprochen werden kann, unabhängig von seiner Herkunft und vielleicht gerade auch in der materiellen Gesellschaft, in der wir heutzutage leben, dass es egal ist, aus welchem Stand du kommst oder was du besitzt,  dass jeder sozusagen als Kind Gottes die gleichen Rechte, die gleiche Würde und dadurch eben auch diese Nächstenliebe zustehen sollte.

Autor: Aus Erfahrungen, wie Leonie und Charlotta sie benennen, spricht ein Bewusstsein, das in der Botschaft von Weihnachten unverkennbar seine Wurzeln hat. Als Kinder Gottes haben alle die gleiche Würde und die gleichen Rechte. Unsere Welt benötigt diese Einsichten — man könnte meinen — mehr denn je: das Bewusstsein einer verständnisvollen, mitfühlenden und verzeihenden Verbundenheit mit allem, was lebt, mit den mannigfaltigen Lebensformen auf diesem Planeten, einer gemeinsamen Verantwortung für die von Gott in Gang gesetzte, wundersame Schöpfung. „Im Handeln schließe ich mich der Schöpferkraft Gottes an; ich falle mit ihr zusammen“, sagt der Jesuit und Paläontologe Teilhard de Chardin, „ich werde nicht bloß ihr Instrument, sondern ihre lebendige Verlängerung“ [3].

Sprecher: Teilhard sagt: „Der lebendige und fleischgewordene Gott ist nicht weit von uns. Er ist nicht außerhalb der greifbaren Sphäre. Er erwartet uns vielmehr jederzeit im Handeln, im Werk des Augenblickes. Er ist gewissermaßen an der Spitze meiner Feder, meiner Hacke, meines Pinsels, meiner Nadel — meines Herzens, meiner Gedanken. Indem ich den Streich, den Schlag, den Stoß, mit dem ich beschäftigt bin, bis zur höchsten natürlichen Vollendung bringe, erfasse ich das letzte Ziel, nach dem mein tiefstes Wollen strebt.“ [4]

Autor: Der weihnachtliche Gedanke des fleischgewordenen Gottes atmet in jedem Augenblick förmlich in die Welt hinein. „Keinem von uns ist Gott fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“, heißt es in der Apostelgeschichte. „Wir sind von seiner Art.“ (Apg 17, 27 f.). Da mag der Blick auf das Kind in der Krippe zum Aufbruch ermutigen, dass wir uns einsetzen für eine freundlichere und friedlichere Welt, wozu Menschen wie Bettina uns weihnachtlich ermuntern:

Bettina: Also, wenn man bedenkt, wieviel Gewalt, Unfrieden, Streit und Einsamkeit es auch gibt in unserer Welt, dann finde ich besonders den Gedanken schön, dass Gott in jedem von uns Mensch wird, weil das für mich auch etwas mit einer inneren Transformation zu tun hat und mit einem Heilwerden-Können. Und in dem Moment, in dem ich das selber erlebe, bin ich vielleicht auch in der Lage, dazu beizutragen, dass die Welt ein bisschen aufgehellt wird oder freundlicher wird und schöner.

Musik | Ane Brun & Fleshquartet: The Opening


[1] Meister Eckhart, Mystische Schriften. Predigt 15: Von der Erkenntnis Gottes. Ins Hochdeutsche übertragen von Gustav Landauer, München: Boer 2019, 64.

[2] Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate. Hrsg. u. übers. v. Josef Quint, München: Hanser 41977, 186f.

[3] Pierre Teilhard de Chardin, Der Göttliche Bereich, Olten und Freiburg: Walter 1962, 46.

[4] Ebd., 49 f.