Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer,
Es gibt Wege, die bleiben für immer etwas Besonderes im Herzen derer, die sie gegangen sind. Für mich ist so ein Weg der durch die Jerusalemer Stadt zum Tempelberg. Wo das Licht golden über Häusern flimmert. Und dann mit einem Mal sieht man ihn vor sich, diesen weiten Platz mit der Westmauer. Es sind Überreste der Befestigung für den zweiten Tempel, wo Jüdinnen und Juden jahrhundertelang zu Gott beteten und es seit seiner Zerstörung in der Antike an der äußeren Mauer in anderer Form bis heute tun. Berühmt sind die Gebete und Gedanken für Gott, die in den Ritzen der Mauer Platz finden. Was davon herunterfällt, wird würdig bestattet. Ein Zeichen, dass nichts und niemand bei Gott verloren geht. Die Mauer ist auch ein Ort der Klage. Es gibt so viel Entsetzliches zu beklagen seit dem 7. Oktober. Der Schrecken des Hamas-Terrors ist vielen Menschen zum Trauma geworden. Die Vergewaltigungen und Verschleppungen, die Trauer in Israel um die Töchter und Söhne, um Eltern, verwaiste Kinder. Die tägliche Sorge um alle, die noch nicht wieder nach Hause kommen konnten. Und in den Herzen brennt das Leid der Menschen in Gaza.
Weltweit ist die Lage für Jüdinnen und Juden in der Diaspora katastrophal, denn die Bedrohungen und der Hass gegen unsere jüdischen Geschwister hat zugenommen. Dieser Schatten lastet schwer auf dem Israelsonntag. Der ist morgen und hat zunächst nichts mit dem modernen Staat Israel oder der Regierung zu tun. Der Israelsonntag im Kirchenkalender trägt biblische Bilder an die leidvolle Zerstörung des Jerusalemer Tempels und erinnert an den Schmerz des Exils der jüdischen Gemeinde in der Fremde. An diesem Sonntag geht es besonders um die Verbundenheit der Christen mit der jüdischen Gemeinschaft, in der Jesu Lehre und Leben tief wurzelt. Christliche Gemeinden haben schwere Schuld auf sich geladen in der Vergangenheit und auch diesen Sonntag antijudaistisch genutzt. Welche Verbrechen daraus wurden, ist nie zu vergessen. Morgen in den Gottesdiensten werden wir ins Zentrum stellen, dass wir Geschwister sind. Zum Leuchten kommt das in der Versöhnungsarbeit von „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“. Seit mehr als sechzig Jahren setzt sich die gemeinnützige Organisation für die Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit ein. Jahr für Jahr begleitet ein Team der Aktion Sühnezeichen die Vorbereitung des Israelsonntags mit Texten für die Gemeinden. Aktion Sühnezeichen geht es um Begegnung, zwischen jungen Freiwilligen aus Deutschland und Überlebenden der Shoa. Begegnungen, die gerade wegen fliegender Raketen in Israel jetzt nicht möglich sind. Wenn von den großen politischen Bühnen, von Eskalationen, Toten und Verletzten berichtet wird, dann vergessen wir nicht, wie lang der Atem derer ist, die über Generationen hinweg beharrlich für die Kraft arbeiten, die aus der Erinnerung kommt: die Kraft zur Versöhnung und zum Frieden. Besonders morgen am Israelsonntag.

