Sonntags werde ich abends immer ein wenig philosophisch, oder religiös? Die Grenzen sind fließend, sagt meine Nachbarin, die sonntags immer in die Kirche geht. Die Grenzen sind ganz klar, sagt mein Nachbar, der noch niemals eine Kirche betreten hat.
Oft sitzen wir am Sonntagabend bei einem Glas Tee oder Wein und reden über den Sinn des Lebens, übers woher und übers wohin und neulich tauchte dabei dieses Gedicht von Mascha Kaléko auf:
„Ich hüpfe“, sprach der Gummiball
„Ganz wie es mir beliebt
Und schließe draus, dass es so was
Wie „freien Willen“ gibt“
„Mal hüpf' ich hoch, mal hüpf' ich tief
Nach Lust und nach Bedarf“
So sprach der Ball, nicht ahnend
Dass des Knaben Hand ihn warf
Sehr tiefsinnig, sprach der Philosophennachbar!
Sehr fromm, sagte die Nachbarin.
Und ich sagte: Die Grenzen sind fließend.
Wir tranken schweigend noch unsere Gläser aus und gingen dann zufrieden schlafen. Gute Nacht.
Quelle: Mascha Kaléko: Sei klug und halte dich an Wunder. Gedanken über das Leben, München 52013, S. 17.