Vor fast einem Jahr hatte ich das große Glück, meine erste Enkeltochter in den Armen zu halten. Zart und ruhig, mit ihren geschlossenen Augen war sie ein kleines, schlafendes Wunder. Ein Jahr voller Liebe, Lachen und Fürsorge später, ist sie längst ein lebendiges, strahlendes Kind geworden, das krabbelt, sich hochzieht und mit Freude in die Hände klatscht.
Ich bin nicht allein in meiner Freude – auch die anderen Ur- und Großeltern sind voller Stolz und Begeisterung. Als ich geboren wurde, waren bereits drei meiner Großeltern verstorben. Zwei an Krankheiten, die heute vielleicht heilbar wären. Der Großvater, dessen Schicksal erst in den 1990er Jahren aufgeklärt wurde, war im Krieg gefallen. Meine noch lebende Großmutter hingegen hatte bereits zwei Kriege, Flucht und Vertreibung überlebt. Ihr Interesse galt weniger uns Enkeln, sondern vor allem ihrem täglichen Gang in die Kirche, der ihr Trost und Halt zu geben schien.
Ich habe keine Erinnerung daran, jemals mit ihr spazieren gegangen zu sein oder zusammen gespielt zu haben. Dafür bleibt mir eine kleine „Trickserei“ im Gedächtnis: Ich schob ihr einmal eine missglückte Klassenarbeit unter, weil ich mich nicht traute, sie meinen Eltern zu zeigen,. Sie unterschrieb die Arbeit, ohne zu merken, was sie tat, und für einen kurzen Moment fühlte sich das gut an. Doch das schlechte Gewissen ließ nicht lange auf sich warten.
Ich freue mich von Herzen, dass die Zeiten sich geändert haben. Meine Enkeltochter hat das Glück, von mehreren Groß- und sogar Urgroßeltern umgeben zu sein, die all die Dinge mit ihr erleben können, die mir damals mit meinen Großeltern verwehrt blieben: Spaziergänge, gemeinsames Spielen, Geschichten vorlesen und die Welt voller Neugier und Freude entdecken. Ich wünsche mir, dass ich für sie da sein kann – nicht nur in den leichten Momenten, sondern auch dann, wenn die Welt einmal schwierig erscheint. Und wer weiß, vielleicht unterschreibe ich irgendwann auch mal eine misslungene Klassenarbeit – wissentlich.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!