16.06
2024
21:58
Uhr

In der Nacht wird der Tag stiller

Ein Beitrag von Sabrina Fabian

In der Nacht wird der Tag stiller. Die meisten Autos haben ihren Parkplatz gefunden.
Die meisten Menschen haben sich in ihre Wohnungen zurückgezogen. Und doch wird
es nie so richtig still. Ich glaube, das liegt an uns. Wir sind keine Geschöpfe der Stille,
dichtet Günther Doliwa:
Wer sind die Geschöpfe der Stille?
Kräuter, Blumen, Bäume, Wolken.
Fische, Muscheln, Wüsten, Steine.
Wir offenbar nicht.
Wir zerrissenen Zwischengeschöpfe,
der Einfalt nicht fähig,
der Weisheit selten,
der Stille so gut wie nie.
Stille fällt uns nicht zu. Sie ist überall,
für Vermessene nirgends.
Sie ist der Mutterort der Wesen.
Das Paradies trägt ihre Augen.
Wir Zwischengeschöpfe, umstellt
von doppelmündiger Angst,
zu verdursten, zu ertrinken.
Selten kostbar eingeschwungen
in den Tanz, ins Ur-Teil, in die Welle.
Wir Zwischenwesen, in Maßlosigkeit
gestürzt, mit Frechheit gewürzt,
Botschafter und Kundschafter zugleich.
Wir könnten erlöst sein, wenn sich über
dem geschäftigen Tag die stille,
fast heilige Nacht wölbt, die verbindet,
was sonst nur, zusammenhanglos,
dazwischenläge.
Genießen Sie so viel Stille, wie sich heute Nacht über sie wölbt.
© Günther Doliwa: »Tsunami. Gottes Rätsel«, Dresden 2010, Herzovision.de