Heute früh war er noch da. Wie all die Jahre davor. Wie jeden einzelnen Tag. Jetzt steht da nur ein Stumpf. Sägemehl liegt drum herum. Es ist ein kurzer Akt: Das Fällen eines Baumes. Es bleibt ein in Scheiben zerlegter Stamm, zersägte Äste und ein Stumpf. Das stimmt mich traurig. Der Baum war mir wie ein Gefährte: Jetzt im Frühling hätte er wieder sein schönstes Kleid präsentiert und meinen Balkon vor den Blicken der Nachbarn geschützt. Er hat mir Schatten gespendet und den Vögeln ein Zuhause. Es gab nichts Schöneres als die Amsel, sich Abend für Abend auf seiner Spitze niederließ, um selbstvergessen ihr Lied von der Sehnsucht und von der Schönheit dieser Welt zu singen. Jetzt hat sie keinen Platz mehr – ihr Lied ist verstummt.
Es gibt kaum ein schöneres Symbol für die Kraft des Lebens als einen grünenden Baum: die Birke im Berliner Vorgarten oder die Kiefern und Buchen in Brandenburgs Wäldern, Olivenbäume in Griechenland oder eine hochgewachsene Zeder in der Toskana. Und es gibt kein traurigeres Bild für die Gefährdung des Lebens als kranke Bäume, die unter den Folgen von Trockenheit, Hitze und Schädlingsbefall leiden.
In meiner Straße hat der Nachbar nun einen roten Bindfaden um den jungen Baum gewickelt, der jetzt als Nachfolger des gefällten nur ein paar Meter neben dem Stumpf steht. Dünn und blätterlos ist er, daran ein Schild mit der Bitte, ihn zu gießen. Neues Leben braucht eben Pflege. Es ist zart und empfindlich. Es braucht Licht und Sonne, Regen und gute Erde. Und Geduld bis irgendwann ein starker Baum daraus wird mit festen Wurzeln und dichter Krone.
Wir sind mitten in der Osterzeit. Zeit für ein Osterlied, dass die Schönheit der Natur und allen Lebens besingt und daran glaubt, dass Leben neu werden kann wie dieser junge Baum: Jetzt grünet, was nur blühen kann, die Bäum zu blühen fangen an. Der Sonnenschein jetzt kommt herein und gibt der Welt ein neuen Schein. Die ganze Welt, Herr Jesu Christ, in deiner Urständ fröhlich ist. (EG 110)
Ich gehe raus nachher - mit der Gießkanne: Ich will den Baum begießen, damit die Freude wächst.