Es ist über 30 Jahre her, da unterrichte ich während meiner Ausbildung zum Pfarrer eine vierte Schulklasse in Kreuzberg im Fach Religion. Es ist die Stunde vor der Prüfungsstunde, in der ich begutachtet werde. Also erkläre ich den Schülerinnen, was passieren wird: „In der nächsten Stunde, da kommen zwei Männer, und die setzen sich dann zu uns hier in den Stuhlkreis. Die sind meinetwegen da, die wollen schauen, ob ich unterrichten kann. Im Anschluss sprechen sie dann mit mir und geben mir eine Note.“
Marvin ist der sogenannte Integrationsschüler der Klasse. Er sitzt auf dem Stuhl neben mir. Da habe ich ihn etwas besser unter Kontrolle. Denn er ist in der Lage, mit seinem Verhalten eine Schulstunde komplett zu verunmöglichen.
Marvin hat mich während meiner Erklärungen nicht aus den Augen gelassen. Er wirkt konzentriert und gelassen zugleich, ist ganz Auge, ganz Ohr. „Du schaffst das“, spricht er mir leise von der Seite zu, so dass es die anderen kaum wahrnehmen: „Du schaffst das.“
Es gibt so Sätze, die katapultieren dich in ein neues Sein. Du bleibst dieselbe Person, dein Umfeld ändert sich nicht, du stehst vor denselben Herausforderungen wie zuvor – und doch fühlt sich dein Leben mit einem Male anders an.
„Wir schaffen das.“ Lange bevor Angela Merkel diesen Satz ganz Deutschland zusprach, habe ich ihn von Marvin schon einmal – und nur für mich – gehört. Und er hat gewirkt. Wirkt noch immer. Wirkt mehr und wirkt heilvoller als Unheils-Sätze, die das Fürchten lehren und Ängste verbreiten.
Vor weit über 2000 Jahren hat ein Mensch aus Israel von Gott etwas zugesprochen bekommen und es dann so aufgeschrieben: Der Geist Gottes ist auf mir, weil Gott mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN.
Einander Mut-mach-Sätze zusprechen, einander befreien und nicht binden, ein friedvolles Jahr auszurufen. Das wäre doch was für 2025.
Schaffen wir das?