08.02
2025
06:50
Uhr

Menschliche Kultur

Was uns wirklich zum Menschen macht

Ein Beitrag von Mario Junglas

Der älteste Beleg für wirklich menschliche Kultur ist nicht eine Höhenmalerei oder ein behauener Stein oder eine geschnitzte Skulptur. Der älteste Beleg ist ein gebrochener, verheilter Oberschenkelknochen. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe von Urmenschen, die auf der Wanderung oder der Jagd waren. Eines ihrer Mitglieder hatte einen Unfall und brach sich den Oberschenkel. Die Gruppe ließ ihn nicht zurück, hilflos und unter diesen Umständen dem Tod geweiht. Sondern sie unterbrach ihre Wanderung, ließ die Tiere weiterziehen, die sie vielleicht verfolgte, und kümmert sich um den Verletzten. Dabei ging sie Risiken ein, verzichtete auf die Verfolgung der Jagdbeute, pausierte an einem Ort, den sie sich nicht ausgesucht hatte. Erst als der Verletzte genesen war, zog die Gruppe weiter.

Wenn von menschlicher Evolution die Rede ist, entsteht oft das Bild einer naturgegebenen Rücksichtslosigkeit. Die Stärkeren überleben den harten Alltag der Vor- und Urmenschen und geben ihre Gene an ihre Nachkommen weiter. Veränderungen im Erbgut führen zu allmählichen Verbesserungen, die sich als Überlegenheit anderen gegenüber darstellen. So war der Homo Sapiens erfolgreicher als der Neandertaler. Das Schwache oder die Schwächeren bleiben auf dieser Entwicklungsbahn zurück.

Der gebrochene und verheilte Oberschenkelknochen ergänzt dieses Bild jedoch auf ganz wesentliche Weise: Nicht Fitness, körperliche Überlegenheit oder fortgeschrittene Entwicklung alleine machen das Werden des Menschen aus. Von Anfang an spielt offenbar ein spezifischer Gemeinschaftssinn eine wichtige Rolle. Der Verletzte, der Schwache wird nicht zurückgelassen, die Starken machen sich nicht achselzuckend davon, sondern die Gruppe sorgt auch für den Hilfebedürftigen.

Vielleicht war es ja auch klug und nützlich, dass die Gruppe für ihr verletztes Mitglied gesorgt hat. Für mich ergibt sich aber darüber hinaus: Auf dem Weg zur Menschwerdung waren Gemeinschaft und Sorge füreinander mindestens genauso wichtig wie der aufrechte Gang. Und das ist heute noch so: Nicht Durchsetzung und brillante Überlebenstechniken machen uns zu Menschen, sondern Sorge und Hilfe für und untereinander.