02.11
2024
06:50
Uhr

Sorgen

Sorgen sind weltumfassend, jeder scheint sie zu kennen. Sorgen scheinen aber auch etwas zu sein, was die Menschen miteinander verbinden kann. So scheint es zumindest der Philosoph Khalil Gibran zu sehen. Er schreibt:

„Als meine Sorge zur Welt kam, hegte und pflegte ich sie mit zärtlicher Liebe. Wie alles Lebende wuchs sie, wurde stark und schön und war voll wunderbarer Freuden.

Wir liebten einander, meine Sorge und ich, und liebten die Welt rings um uns. Denn meine Sorge war freundlich, und ich war freundlich zu ihr.

Wenn wir miteinander sprachen, meine Sorge und ich, vergingen die Tage im Flug, und wundervolle Träume schmückten unsere Nächte. Denn meine Sorge hatte eine beredte Zunge, und ich redete viel mit ihr. Wenn wir miteinander sangen, meine Sorge und ich, saßen die Nachbarn an den Fenstern, denn unsere Lieder waren tief wie das Meer, und unsere Melodien riefen ferne Erinnerungen zurück. Wenn wir miteinander auf der Straße gingen, meine Sorge und ich, blickten die Leute uns wohlwollend nach und flüsterten die schönsten Sachen…

Aber wie alles Lebende starb meine Sorge, und nun bin ich mit meinen Gedanken allein. Jetzt tönen meine Worte plump in meinen Ohren. Keine Nachbarn kommen, um meine Lieder zu hören. Niemand blickt mir nach, wenn ich über die Straße gehe. Nur im Schlaf höre ich mitleidige Stimmen sagen: „Seht her, hier liegt der Mann, dessen Sorge gestorben ist.““

Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, dachte ich mir, hier kann etwas nicht stimmen. Zu seltsam ist sie, auch mit einem traurigen Ausgang. Mir kam die Idee, sie einmal ganz anders zu lesen. Da liebt einer seine Sorge, und das Leben ohne sie ist ihm fad und leer. Ist das nicht absurd? Sollten wir unsere Sorgen wirklich lieben? Darauf kann es vor allem eine Antwort geben: Wenn ich im Leben hauptsächlich meine Sorgen liebe, dann mache ich etwas falsch. Das Leben hält zum Glück mehr bereit als Sorgen. Doch das muss ich jeden Tag neu erkunden. Was wäre das sonst für ein Leben?