Sie kam in den 90ern mit ihrer Familie nach Deutschland. „Rückkehr in die Heimat“, nannte sie es, obwohl ihre ganze Familie in Kasachstan geboren ist. Eine Rückkehr, weil ihre Vorfahren, die Wolga-Deutschen, aus Deutschland stammten. Hessen, Baden, Württemberg, Pfalz und so weiter. Sie sind im 18. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen ausgewandert, auch aus politischen. Während ihre Eltern Deutsch als Muttersprache sprachen, war sie selbst mit Russisch besser vertraut. Deutschland war für sie ein verklärtes Land. Ein wenig gar das Land, in dem Milch und Honig fließen. Ich erfuhr von ihrer Biographie aus dem Mund ihres Ehemanns, der beim Bestattungsgespräch über seine Frau erzählte. Nach der Bestattung trafen wir uns erneut. Er klagte über die schlimme Lage in Deutschland. Wären nicht alle Verwandten in Deutschland, würde er am liebsten nach Russland zurückkehren. Ich fragte ihn, was denn in Deutschland alles schieflaufe und über welche Quellen er sich informiert? Da sagte er, hier gäbe es gar keine echte Freiheit, man dürfe kaum seine Meinung sagen und überhaupt müsse man nur einen Blick ins Internet werfen, um zu erfahren, mit welchen Lügen uns die Politik abspeist.
Bei solchen Erzählungen läuft es mir kalt den Rücken runter. Aber klar, wer sich hauptsächlich über Russia Today und ähnliche Medien oder über bestimmte Telegram-Kanäle informiert, der hat gewiss sein eigenes Bild von Deutschland und Demokratie. Als Seelsorger begleite ich solche Gespräche mit Fingerspitzengefühl. Als Pfarrer und als Privatmensch gehe ich jedoch anders damit um. Ich habe es noch im Kopf das Bild von meinen Eltern, als sie mit Entsetzen feststellten, wie leichtfertig sie damals der sowjetischen Propaganda auf den Leim gingen und alles glaubten, was Radio und Fernsehen über die blühenden Landschaften des Sozialismus hergaben. Und wie sie sich daran erinnern, ihren Glauben nur im Verborgenen und unter Einschränkungen gelebt haben zu dürfen.
Ich bin heute Gott dankbar für die Demokratie in Deutschland, in der ich frei leben und glauben darf. Kein Versteckspiel, keine Einschränkungen. Wem es gut geht, der hält gerne Dinge für selbstverständlich, die nicht selbstverständlich sind: Unsere Demokratie, die Pressefreiheit, die Menschenrechte – sie sind etwas Besonderes.