10.02
2024
06:50
Uhr

Der Seele Flügel geben

Zu Tausenden kreisen sie über den Strand oder das Meer: die Seevögel. Es macht Spaß, sie zu beobachten: wie sie mit einer Leichtigkeit über die Wellen gleiten, alles Schwere unter sich lassen und einfach nur vom Wind getragen werden. Hätten Sie Lust, mitzufliegen?

Realisten geben das Träumen schnell auf: wir sind keine Vögel und müssen uns daher mit der Erde und ihren Problemen auseinander setzen. Doch ich würde da nicht so schnell aufgeben. Natürlich haben wir keine Flügel wie die Seevögel. Aber – kann man nicht mal der Seele Flügel verleihen.

In der Schule haben wir das Gedicht „Belsazar“ von Heinrich Heine gelernt. Belsazar, der König von Babylon hat Gott gelästert. Auf einmal erscheint nachts eine unsichtbare Hand, die etwas an die Wand schreibt. Der König bekommt das Grausen. Ängstlich wendet er sich an seine Gelehrten; aber keiner von ihnen kann die Schrift deuten.

Leider lässt Heine in seinem Gedicht den interessantesten Teil dieser biblischen Erzählung weg. Es gibt nämlich im Land einen Juden, Daniel, einen Mann von großer Einsicht und Weisheit. Der König verspricht, ihn mit Gold und Silber zu beschenken. Doch Daniel antwortet: „Behalte dein Gold, König, oder gib es einem anderen.“ Und dennoch deutet Daniel ihm die Schrift.

Dieser Daniel beeindruckt mich sehr: während die anderen Wahrsager dem König die Schrift nicht deuten können – oder vielleicht auch nicht deuten wollen, weil sie Angst vor dem König haben – kann Daniel sogar auf die Belohnungen verzichten und hat doch den Mut, ihm die Wahrheit zu sagen.

Manchmal wünsche ich mir so eine innere Freiheit, wie Daniel sie gehabt hat. Kann man die lernen oder erwerben? Vielleicht braucht man dazu jemanden, vor dem man keine Angst haben muss, sondern dem man sich einfach anvertrauen kann. Daniel wusste sich getragen von der Liebe Gottes; und die Erfahrung, von Gott geliebt zu werden, hat ihm diese Freiheit gegeben.

„Über den Wolken,“ so hat es Reinhard Mey gesungen, „muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“  So hoch hinaus ist Daniel eigentlich nicht geflogen, im Gegenteil: er blieb bescheiden. Aber seine Seele, die hat Flügel bekommen.