Eine Person mit langen Haaren ist im Profil sichtbar und hat die Hände zum Gebet gefaltet. Die Gesichtszüge sind ruhig und konzentriert. Das Bild vermittelt eine Atmosphäre der Besinnung und Spiritualität.
13.06
2025
06:50
Uhr

Jetzt kannst du nur noch beten?

Es kommt nicht auf perfekte Worte an

Es gibt Momente im Leben, da scheint nichts mehr zu helfen. Dann fällt manchmal der Satz: „Jetzt kannst du nur noch beten.“ Ich habe diesen Satz schon öfter gehört – und ehrlich gesagt, auch selbst gedacht, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Dazu muss man nicht besonders gläubig sein. In einer Notlage denkt wohl fast jeder so.

Aber was heißt das eigentlich: beten? Wie geht das – und wo?

Dazu möchte ich Ihnen eine kleine jüdische Legende erzählen:

Ein Rabbiner durchquerte ein Dorf, ging in den Wald und dort, am Fuße eines Baumes, betete er. Und Gott hörte ihn. Auch sein Sohn durchquerte dieses Dorf. Er wusste nicht mehr, wo der Baum war, und betete also an irgendeinem Baum. Und Gott hörte ihn.

Der Enkel des Rabbiners wusste weder, wo der Baum war noch wo der ganze Wald war. Er ging zum Beten in das Dorf. Und Gott hörte ihn.

Der Urenkel wusste weder, wo der Baum war noch der Wald noch das Dorf. Aber er kannte noch das alte Gebet. So betete er zuhause. Und Gott hörte ihn.

Der Ururenkel schließlich kannte weder den Baum noch den Wald noch das Dorf noch das alte Gebet. Er kannte aber noch die Geschichte und erzählte sie seinen Kindern. Und Gott hörte ihn.

Es ist nicht die Frage, wie bedeutsam ein Anlass ist, wie groß eine Notlage, wie passend die Worte sind, die wir dafür wählen. Wir können, wir dürfen beten. Ich selbst gehe davon aus, dass wir gehört werden, und sei es auch nur, indem wir eine Geschichte erzählen, die jemanden erreichen will.

In der Pfingstwoche denken Christen auf der ganzen Welt alljährlich an das Wunder der vielen Sprachen, die verschieden sind und doch verstanden werden. Die Überlieferung ist wunderbar und verwunderlich, aber erstmal ist sie eine solche Geschichte, die jemanden erreichen will. Sie will uns erreichen. Und indem wir darüber sprechen oder nachdenken, uns darüber wundern oder sie vielleicht sogar verwerfen, werden wir gehört. Es lohnt sich also zu beten – nicht nur in Notlagen.

Das Gebet. Nach einer jüdischen Legende. In: Der Andere Advent 2013/14, 27.12.