Das verbinde ich mit Demokratie: Sommer 1989, ich war gerade 18 und zum ersten Mal beim Kirchentag in West-Berlin. Die Mauer stand noch. Wenige Wochen später roch es in meiner westdeutschen Zonenrand-Gebiets-Heimatstadt wie damals in Prag: nach Trabi-Treibstoff und zugleich nach Aufbruch. Damals hatte Politik für mich zum ersten Mal mit Veränderung und Aufbruch zu tun. Und jetzt wieder: Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz und 35 Jahre friedliche Revolution. Mit Gottesdiensten, Staatsakt und Demokratiefest. Mit Wahlen zu einem gewachsenen Europa. Mit Kommunalwahlen und Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern.
Demokratische Prozesse und Protagonisten gehören heute zu meinem Arbeitsalltag. Ich vertrete die evangelische Kirche gegenüber der Politik in Berlin und Brüssel und stehe den politisch Verantwortlichen als Seelsorgerin zur Verfügung. Das Parlament verabschiedet Gesetze, die Kirchen rufen zwischendurch immer wieder hinein, damit die Schwächsten nicht vergessen werden und die Menschenwürde nicht auf der Strecke bleibt, zum Beispiel an den EU-Außengrenzen.
In diesem Sommer erlebe ich Menschen in der Politik oft an der Belastungsgrenze: Angriffe beim Plakate kleben, Pöbeleinen im Parlament, Hass und Häme nicht nur auf Tiktok – Politikerin und Politiker zu sein, ist mittlerweile ein gefährlicher Beruf. Die Ansprüche sind riesig und die Tage viel zu lang. Helft uns, die Gesellschaft zusammenzuhalten, höre ich oft. Gerade ihr als Kirchen. Ihr steht doch für Hoffnung. Für langen Atem. Stimmt: Es braucht Menschen, engagiert und mutig, damit Demokratie lebt. Damit die Würde des Menschen unantastbar bleibt.
Bundespräsident Steinmeier hat am 23. Mai gesagt: Das Grundgesetz ist keine Bilanz, sondern ein Auftrag. Im Buch Sirach heißt es: Wer Gott fürchtet, der findet das Recht! Gott fürchten klingt nach Angst, aber eher ist Ehrfurcht gemeint: Achtsamkeit, in Verbindung bleiben und im Blick behalten, was mein Handeln macht mit den Nächsten und Fernsten – das ist der Auftrag. Und dabei vertrauen auf etwas Größeres, was immer schon da ist. Mitmenschlichkeit, Würde, Freiheit. Wer so lebt, der findet das Recht.
Das ist für mich der Duft von Demokratie.