Zwei Menschen umarmen sich herzlich auf einer belebten Straße. Die Szene strahlt Freude und Zuneigung aus, während im Hintergrund andere Passanten zu sehen sind. Die Umarmung symbolisiert emotionale Verbundenheit und Wärme.
16.06
2025
06:50
Uhr

Aus den Augen, nicht aus dem Herzen

Ein Beitrag von Tobias Ziemann

Plötzlich steht sie vor mir. Wir müssen erst beide zweimal hinschauen. Fünfundzwanzig Jahre lang haben wir uns nicht gesehen. Wir haben uns verändert!

Damals hatte ich die Schule gewechselt, sie war geblieben. Ein Wiedersehen hatte sich nie ergeben, weder analog noch im Internet. Aber hier stehen wir nun und müssen beide etwas stutzen. Bist Du das wirklich? 

Wir hatten leider nur wenig Zeit, gingen nur ein kurzes Stück zusammen, aber wir tauschten Nummern aus. Zu Hause suchte ich dann die alten Bilder raus. Erinnerungen stiegen auf. Auch an die anderen aus unserer Klasse. Was war wohl aus ihnen geworden? So viel Zeit haben wir damals zusammen verbracht, den Schulalltag geteilt – und uns dann einfach aus den Augen verloren. Weil neue Verbindungen, neue Gruppen sich ergeben haben, im Studium, durch die Familie, auf der Arbeit. Immer wieder passiert das so. Und es ist eine herbe Erkenntnis irgendwann, dass Du gar nicht mit allen Menschen in Kontakt bleiben kannst, die Dir einmal wichtig waren. 

So blieb ich an jenem Tag mit einem Staunen zurück darüber, wie viele Menschen meinen Weg schon begleitet haben und ich ihren. Auch, wie viele Menschen ich selber aus den Augen verloren habe, obwohl sie mir eigentlich wichtig waren. Nostalgie nennt man das wohl – ein Gefühl, das wachsen wird, je älter ich werde.

„Behüte, Herr, die ich Dir anbefehle“, heißt es in einem Segenslied von Lothar Zenetti. Es wendet sich mit der Bitte an Gott, andere Menschen im Blick zu behalten, sie zu behüten, wo ich es selber nicht vermag. In der letzten Strophe finde ich mich besonders wieder, wo es heißt:
„Du ließest mir so viele schon begegnen, so lang ich lebe, seit ich denken kann. 
Ich bitte Dich, du wolltest alle segnen, sei mir und ihnen immer zugetan.“       

Ja, es stimmt: So viele Menschen haben mich geprägt und ich sie, auch die, an die ich mich vielleicht gar nicht mehr erinnere. Gut zu wissen, dass Gott dieses „Netzwerk“ überblickt, das sich um mich herum gewoben hat. Dass nichts einfach so vorbei ist: aus den Augen – aus dem Sinn. Gott hat alle im Blick. Ein tröstliches Gefühl -  und ich freue mich darauf, wen ich noch alles wiedersehen werde, eines Tages – oder heute in der Straßenbahn.