„Unsere Weiterfahrt verzögert sich um unbestimmte Zeit…“ Meine Freundin wischt sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, schnäuzt sich und fährt fort: „Genauso fühlt sich das gerade an, als würd mir einer sagen: Die Weiterfahrt deines Lebenszuges verzögert sich um unbestimmte Zeit.“
Wir stehen gemeinsam am Grab ihres Mannes, der vor einem Monat beerdigt wurde. Einmal in der Woche treffen wir uns hier und trinken einen Piccolo. Das ist illegal und macht umso mehr Spaß, weil Alkohol auf diesem Friedhof verboten ist.
Meine Freundin ist sehr stark, ich bewundere das. Sie hat mit großer Kraft und Klarheit ihren Mann beim Sterben und auf seiner letzten Reise begleitet. Jetzt steht sie hier mit mir, trinkt Sekt, schluchzt und lacht manchmal gleichzeitig und hat eben dieses Bild für ihr aktuelles Leben gefunden.
„Ich hab das Gefühl, irgendwie ist alles stehen geblieben, aber nur bei mir. Alle andern machen weiter und bei mir steht die Zeit, oder eben mein Zug. Einfach stehen geblieben. Leider nicht an einer Haltestelle, sondern irgendwo auf freier Strecke… Weiterfahrt verzögert… um unbestimmte Zeit. Und der, der immer mit mir fuhr, mit dem ich entschieden habe, wie und wann es wohin gehen soll, der ist einfach ausgestiegen und nun sitz ich hier alleine und nichts bewegt sich…“
Mich bewegen ihre Worte. Mein Lebenszug rollt gerade ganz fröhlich vor sich hin. Mein Partner macht mir meistens gute Laune und niemand von uns beiden plant an einer der nächsten Haltestellen ohne den andern auszusteigen.
Aber was heißt das schon? „Meine Zeit steht in deinen Händen!“, Das ist kein Stoßgebet, wenn es mal wieder länger dauert bei der Bahn…, sondern stammt aus der Bibel. Der Spruch erinnert mich daran, dass die Länge unseres Lebens nicht meine Entscheidung ist. Keiner weiß, welche Haltestelle als Ausstieg für ihn vorgesehen ist.
„Vielleicht steht der Zug“, hör ich mich sagen, „weil die Weichenstellung erst mal neu geklärt werden muss.“ „Ja“, sagt sie, „vermutlich ist es auch ganz gut, dass es nicht einfach weiter geht. Ich muss ja irgendwie begreifen, dass er wirklich nicht mehr kommt und nie mehr neben mir sitzen wird. Dafür ist die verzögerte Weiterfahrt sicher hilfreich…“
Schweigend umarme ich sie und habe ganz kurz das Gefühl, der Zug fährt wieder ein kleines Stück - und ich sitze neben ihr.