„No mercy“! Einen Kaffee in der Hand, steige ich die Treppe zum Zug hoch. Plötzlich diese zwei Wörter auf der Wade vor mir: „No mercy“ - „Keine Gnade“. Wem diese tätowierte Wade vor mir wohl gehört? Ich schaue auf und sehe, es ist ein junger Mann von Anfang zwanzig. Er wirkt völlig harmlos, sportlich, mit Hoody, Shorts, Kopfhörern und Sneakern unterwegs. Sieht alles andere als gnadenlos aus.
Wieso tätowiert sich so einer „No mercy“ auf seine Haut? Meine Gedanken beginnen zu kreisen: Gabs keine Momente in seinem Leben, in denen er so etwas wie Gnade erfahren hat? In denen ein Lehrer mal fünf hat gerade sein lassen. In denen ein Freund zu ihm gesagt hat: „Schwamm drüber“? Allein, dass er im friedlichen Deutschland lebt und nicht zum Beispiel im Patronenhagel des Bürgerkriegs von Somalia sein Leben fristen muss – ist das nicht Gnade? Also irgendwie unverdient? Vielleicht will er auch zeigen: Ich bin kein Weichei. Ich bin stark. Ich bin autonom. Ich brauche niemandes Gnade.
„Allein durch Gnade“, könnte ich mir eigentlich auf die Wade tätowieren lassen. Allein durch Gnade - sola gratia, diesem Leitspruch der Reformation folgten nämlich viele Kirchen-gemeinden, als sie vor mehr als 500 Jahren evangelisch wurden.
Martin Luther, der große Prediger der Gnade. Gnade bedeutete für ihn: Du kannst und du musst dich nicht selbst retten. Du bist angenommen – nicht, weil du vollkommen bist, sondern weil Christus vollkommen für dich ist. „Aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch – Gottes Gabe ist es“, sagt Paulus in der Bibel. Martin Luther hat das gelesen und weitergedacht.
Die Gottesgnade und die Menschengnade wieder zum Leuchten bringen – vielleicht wäre das ein Impuls für den Oktober, der Jahr um Jahr mit dem Reformationstag endet? Besonders jetzt, wo viele Herzen gnadenloser werden, in denen Menschen verhärten und manche Seele an Durchlässigkeit und Weite verliert? Ich gehöre auch manchmal dazu.
Ich will mich jedenfalls einüben in diesen gnädigen Blick – auch auf Menschen, die sich „No mercy“ auf ihre Wade und in ihre Seele gebrannt haben. Ein gnädiger Blick verwandelt Gnadenlosigkeit in Weite. „sola gratia“ – mercy for me and you!