Türen springen auf. Die übliche Drängelei im Berufsverkehr. Auch ich habe es mal wieder sehr eilig, hier am S-Bahnhof Ostkreuz, wo immer was los ist.
Plötzlich stockt die Menge. Ein junger Mann mit weißem Stock tastet sich vorsichtig vorwärts. Von hinten wird geschoben. Ein Kind neben mir fragt: „Was macht der Mann da?" Seine Mutter bleibt die Antwort schuldig.
Als ich ihn – etwas zaghaft – anspreche und frage: „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?", sagt er mir freundlich, wo er aussteigen muss. „Jannowitzbrücke." Das ist auch meine Station. Beim Aussteigen lege ich meine Hand vorsichtig auf seine Schulter.
Wie ein verlängerter Arm gleitet der elastische Blindenstock meines Wegbegleiters über den Bahnsteig. „Eigentlich kenne ich mich hier gut aus", erklärt er mir. „Aber die vielen Baustellen sind Mist."
Ich nicke zustimmend – dann fällt mir ein, dass er mein Nicken nicht sehen kann. Ein Moment der Verlegenheit. Wie selbstverständlich gehe ich davon aus, dass alle die Welt so wahrnehmen wie ich. „Ist schon okay", sagt er, als spüre er meine Unsicherheit. „Danke fürs Fragen. Die meisten drängeln einfach vorbei."
Später denke ich noch über diese Begegnung nach. Wie oft gehe ich durchs Leben und merke nicht, wo andere Unterstützung brauchen könnten? Nicht aus Bosheit, sondern aus einer Art von Blindheit – der Blindheit der Eile, der Selbstbezogenheit, der Routine.
Im Neuen Testament heißt es: „Einer trage des anderen Last." Aber vielleicht beginnt das gar nicht beim Tragen. Vielleicht beginnt es beim Wahrnehmen. Beim Stehenbleiben. Beim Fragen: „Kann ich Ihnen behilflich sein?" Und auch beim Respektieren der Antwort – ob sie nun „Ja, gerne" oder „Danke, ich komme selbst zurecht" lautet.
Der Mann an der Jannowitzbrücke hat mir etwas Wichtiges gezeigt: Manchmal ist die größte Hilfe nicht, jemanden zu retten, sondern einfach da zu sein. Aufmerksam. Bereit. Ohne sich aufzudrängen.
„Einer trage des anderen Last." Ein gutes Motto – nicht nur für S-Bahn-Fahrten.