In meinem Stadtteil gibt es ein großes Friedhofsgelände. Einige Grabstellen, die ich dort entdeckt habe, sind fast 200 Jahre alt. Es überkommt mich ein Gefühl von Ehrfurcht und auch etwas Beklemmung, wenn ich mir bewusst mache, dass hinter all den Gräbern einmal lebendige Menschen gestanden haben.
Man kann den Jahreszahlen auf den Grabsteinen entnehmen, dass viele, die hier beerdigt wurden, zu jung gestorben sind, gerade mal erwachsen. Andere Lebensgeschichten waren lang und erfolgreich. Davon erzählen die mit Figuren und Porträtbildern ausgestalteten Grabbauten, die sich wohlhabende Leute haben aufstellen lassen. Sie sind im Lauf der Zeit baufällig geworden. Man ahnt, wie eindrucksvoll diese Monumente einmal gewesen sein müssen.
Und es überrascht mich jedes Mal, wie viele in Stein gemeißelte Hinweise es zu entdecken gibt, was die Hinterbliebenen für die Gestorbenen empfunden, was sie Ihnen gewünscht und für sie gehofft haben und in welchem Glauben sie miteinander verbunden waren. Alte christliche Symbole – Kreuze, Jesusköpfe aus Marmor, biblische Engelfiguren – wohnen hier Tür an Tür mit neuen Kostbarkeiten: Miniautos, Fußballschals, Windspielen und vielem mehr. Eine bunte Landschaft ist entstanden.
Im Frühsommer, wenn die alten, hochgewachsenen Bäume grün geworden sind und auf den Gräbern und Rasenflächen alles blüht, erwacht der grüne Ruheplatz. In einem abgelegenen Friedhofsteil hat jemand Bienenstöcke angelegt. Dort herrscht jetzt Hochbetrieb.
Diese Naturoase mitten in der Stadt zieht auch die Menschen hierher. Leute spazieren – oft mit Kinderwägen –, führen angeregte Gespräche, sitzen auf Bänken und lesen oder machen Fotos. Manche pflegen die Gräber.
Wie wunderbar, denke ich, dass es auf dem Friedhof so lebendig zugeht. Und ich bin erleichtert, dass mir die Suche nach einem Gott immer noch eingeschrieben ist, der das Ganze hier zusammenhält und überbrückt. Denn – so frage ich mich gleichzeitig auch etwas unbehaglich: Wenn es Gott nicht gibt – was wird dann mit jedem gelebten Leben, das auf diesem Friedhof begraben liegt, mitsamt den Erinnerungsgeschichten, die hier aufbewahrt sind?