11.01
2024
06:50
Uhr

Gottschalk und der Junge im Rollstuhl

Als Kinder und Jugendliche hatten wir zuhause eine Bande. Dazu gehörten fünf Jungs. Einer war Richard. Wir verbrachten viel Zeit bei Indianerspielen im Wald und waren im Sommer immer mit den Pfadfindern unterwegs. Dann plötzlich hatte Richard eine schlimme Krankheit, die ihn zeitlebens an den Rollstuhl fesselte. Richard war plötzlich „ein Behinderter“. Aber das machte uns gar nicht so viel aus. Er blieb stets Mitglied unserer Bande. Richard wurde Finanzbeamter. Er kennt sich hervorragend mit Steuern aus und weiß immer genau, welche Aktien im Moment zu empfehlen sind. 

Neulich musste ich wieder an ihn denken. Als im Fernsehen zum letzten Mal „Wetten Dass“ lief. Da trat auch ein Rollstuhlfahrer auf, ein 14-jähriger Junge, der eine spektakuläre Wette auf Lager hatte. Aber kaum war der Junge mit seinem Rollstuhl im Studio vorgefahren, versperrte erstmal eine Stufe seinen Weg zum Gästesofa. Die prominenten Wettpaten mussten ihm umständlich und etwas ungelenk von oben herab die Hand geben. 

Als Zuschauer empfand ich darüber ein Unbehagen. Denn der Junge wurde irgendwie vorgeführt. „Du sitzt im Rollstuhl, aber du bist ein aufgewecktes und lustiges Kerlchen“, bemerkte Thomas Gottschalk, so als wäre das ein Widerspruch: lustig und aufgeweckt sein und im Rollstuhl zu sitzen. 

Ich will Thomas Gottschalk nicht unterstellen, dass er seine Gäste von oben herab behandelt. Aber bei Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung sollte man wirklich besondere Sorgfalt an den Tag legen. Der Gast wurde sozusagen als bestaunenswerter Behinderter vorgeführt. Bei mir blieb der Eindruck: wenn Behinderte im Fernsehen zu sehen sind, werden sie entweder bemitleidet, weil sie nur eingeschränkt bewegungsfähig sind. Oder sie werden bestaunt, weil sie trotz ihrer Behinderung doch noch „aufgeweckt und lustig“ sind. 

Was Menschen mit körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung wirklich brauchen, ist weder übertriebenes Mitleid noch übertriebene Bewunderung. Viel wichtiger wäre ein selbstverständlicher Umgang mit ihnen und das auf Augenhöhe.