09.01
2024
06:50
Uhr

Wo Gott wohnt

Beim Mittagessen unterhalten sich die Mönche darüber, wo Gott wohnt. Der eine meint: „Im Himmel. Da ist seine Wohnung“! Ein anderer erwidert: „In seiner Schöpfung! In der Natur!“. Ein dritter beharrt darauf: „Gott ist überall!“ Wieder ein anderer sagt: „Nein, er ist im Menschen!“ So reden und streiten sie miteinander, bis der Bruder Pförtner sich zu Wort meldet – und sagt: „Gott wohnt da, wo man ihn einlässt!“

Die kleine Anekdote zeigt eine tiefe menschliche Weisheit: Um einen Zugang zum Göttlichen zu finden, müssen wir uns öffnen. Und für möglich halten, dass uns das Unerhörte, das Göttliche begegnet. Wer dies tun kann, für den scheint es dann auch zweitrangig, ob er das besondere spirituelle Erlebnis beim Blick in den Kosmos, in der Natur oder in der Begegnung mit dem Mitmenschen verspürt. 

Mir persönlich leuchtet die Annäherung an das Geheimnis Gottes durch den Mitmenschen am ehesten ein. Es gibt nichts Spannenderes als andere Menschen. Allerdings ist es nicht immer einfach, den Anderen auch als göttlichen Boten zu erkennen und wertzuschätzen. Es begegnen mir nämlich auch Menschen, die mir eigentlich gar nicht begegnen. Sie bedienen mich im Supermarkt, sitzen neben mir im Bus. Sie sind nicht wirklich präsent, weil ich sie gar nicht richtig wahrnehme. 

Dann kommt es vor, dass mir Menschen begegnen, denen ich am liebsten nicht begegnet wäre. Ich mag sie nicht, sie sind und bleiben mir fremd. Ich versuche, sie mir vom Halse zu halten. Und dennoch sind sie da.

Und schließlich begegnet mir jemand, der mich berührt, der eine Saite anschlägt in mir. Wir werden zu Vertrauten oder sogar zu Liebenden. Wir werden von Energie ergriffen, die alles in uns verstärkt, anregt und auf ein Niveau hebt, zu dem wir allein niemals im Stande gewesen wären. Wir wachsen über uns hinaus. Nehmen alles anders wahr, wie verzaubert, wie erlöst. Deswegen ist es nicht vermessen, zu behaupten, dass wir in der Liebe und im Bedürfen des Anderen auch Gott spüren. 

Begegnungen bringen uns einander näher. Und sie bringen uns Gott näher.