10.01
2024
06:50
Uhr

Hans im Glück

Von Kindern wird Hans im Glück zumeist bedauert. Sie können nicht verstehen, wie jemand so töricht sein kann. Zuerst tauscht er den Goldklumpen in ein Pferd, dann das Pferd in eine Kuh, die Kuh in ein Schwein, das Schwein in eine Gans und die Gans schließlich in einen Wetzstein. Und als der ihm lästig wird, wirft er ihn in den Brunnen. So steht er am Schluss ohne alles da. Im Märchen heißt es dagegen: Hans sei am Schluss der glücklichste Mensch gewesen. 

Hans im Glück ist eigentlich kein Märchen für Kinder, sondern eines für Erwachsene. Es ist eine Geschichte, die lehrt, wie wir heil werden können. Frei von Belastung und Verpflichtung; eine Geschichte der Rückkehr zu den Anfängen. Deswegen ist es auch eine Geschichte über das, was Glauben heißt.

Hans im Glück hat in sich gespürt, was Heil werden bedeutet. Nämlich: leer zu werden. Bis er das erreicht hat, hat er mehrere Stufen durchlaufen. Erst ganz am Ende, als er von allem Habenwollen und allem Ballast befreit ist, kommt er zu sich selbst. Da ereignet sich eine fast schon mystische Einsicht: Dann, so heißt es, kehrt er heim zur Mutter. Der Kreislauf schließt sich.

Es gibt wohl einen einleuchtenden Grund, warum sich ältere Menschen mit mehr Lebenserfahrung häufig intensiver mit Religion beschäftigen, als jüngere. Als Kind und junger Mensch zielt alles auf Entwicklung und Steigerung. Etwas Lernen, etwas Werden. Es kommt darauf an, etwas zu haben. Im nächsten Lebensabschnitt kommen neue, größere Herausforderungen: Heiraten, Familie gründen, Beruf ausüben, Karriere machen, Talente entfalten. Mitte vierzig fühlt sich dann mancher auf dem Höhepunkt dessen, was er meint, erreichen zu können. Dann kann es angeblich nur noch abwärts gehen. 

Bei Hans im Glück ist es anders. Seine Glücksempfindung steigert sich, je mehr er sich seiner endgültigen Heimat nähert. Erst am Lebensabend, erst wenn der Wetzstein im Brunnen versinkt, kniet er nieder und betet: „Gott ich danke dir, dass du mich von allen unnötigen Dingen befreit hast.“ Erst jetzt ist er der glücklichste Mensch; einer, der alles lassen konnte und jetzt frei ist. Frei um zu spüren, dass er existiert.