Unsere Zeit ist Vielen schwer geworden. Stress, Unsicherheit, Pessimismus, Klagelieder über den allgemeinen Niedergang. Dazu Krieg an vielen Orten auf unserer Welt.
Zu oft fällt da der Blick auf das, was nicht ist, was ärgert, was nicht gefällt.
In der Bibel gibt es zwei unterschiedliche Worte für den Begriff Zeit. Chronos für die ablaufende Zeit, die wir mit Uhren messen und stoppen können und die wie durch eine Sanduhr unaufhaltsam zerfließt.
Daneben gibt es einen anderen Begriff: Kairos. Das ist der besondere Moment mitten in der Zeit – also jetzt – in diesem Augenblick. In der griechischen Antike ist Kairos ein Glücksgott, der für das Erwischen des richtigen Zeitpunkts steht. Nur mit einer Locke am kahlgeschorenen Kopf wird er dargestellt. Daran kann man ihn festhalten, im rechten Moment. Daher kommt unser Sprichwort, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen.
Kairos, das ist, wenn gefühlt die Zeit stillsteht.
Das sind Momente, in denen wir einfach so da sind. Im selbstvergessenen Spiel mit den Kindern, in den Armen eines geliebten Menschen oder in der Betrachtung der Sternschnuppennacht. Erinnern Sie sich, wann Sie das letzte Mal einen Kairos, so erfüllte Zeit erlebt haben?
In Bergen auf der Insel Rügen steht die Marienkirche. Ein Herbststurm im Jahr 1983 riss das Zifferblatt der Turmuhr aus der Verankerung. Eine Restaurierung musste erfolgen. Beim Anreißen der Bohrlöcher für die Minutenpunkte unterlief den Handwerkern ein Fehler. Sie bohrten so eng, dass zwischen dem vorletzten und dem letzten Minutenpunkt ein zu großer Abstand blieb. Kurzerhand fügten sie so einen 61. Minutenpunkt hinzu. Wirklich aufmerksam wurde man darauf erst im Jahr 1999. Die Turmuhr ist seither ein Anziehungspunkt für Touristen. Sie stehen davor, recken die Hälse, zählen die Minuten und lassen sich auf diese Weise unbemerkt eine 61. Minute schenken. Vielleicht auch einen Kairos, einen besonderen Moment, in dem die Zeit stillsteht.
Kairos. Das ist eine Ansage gegen alles Verzweifeln an der gegenwärtigen Zeit- vor allem aber die Ansage, beidem Raum zu geben: der bewusst verbrachten und gestalteten Zeit und der ganz zweckfrei gelebten. Weil in ihr Raum für Kreativität liegt und weil auch Passivität ein wichtiger Aspekt unseres Daseins ist. Wer hält denn heute noch Langeweile aus? Die lange Weile – als Zeitansage, die dem Kairos verwandt ist. Vielleicht begegnet sie uns schon heute. Ganz unverhofft.