12.10
2024
06:50
Uhr

Nachtwache

Ein Beitrag von Cordula Machoni

Ein neuer Tag bricht an. Ich weiß nicht, wie Sie diese Nacht verlebt haben.  

Ich weiß nur, dass im Reich der Träume alles möglich ist: fliegen oder unter Wasser atmen, die Toten wiedersehen und uns in Menschen verlieben, die scheinbar unerreichbar sind. Nächtliche Träume machen uns zu Künstlerinnen, Abenteurern und feurigen Liebhabern, zu Amazonen und Superstars. Die Nacht bringt Entscheidungen, sie gebiert Traumschlösser und Doktorarbeiten, Abschiedsbriefe und Jahrhundertsongs. Alles ist möglich. 

Nächtliche Träume spielen auch in der Bibel eine große Rolle. Sie sagen immer etwas, was das eigene Bewusstsein noch nicht weiß. Als es Nacht wird, beschließt Jakob – unterwegs auf der Flucht – notgedrungen im Freien zu schlafen. Er träumt. Von einer Leiter, deren Spitze den Himmel berührt. Engel klettern daran herauf und herunter. Und Gottes Stimme verspricht, dass er Jakob überallhin begleiten wird. 

Die Hoffnung auf Zukunft steht also am Ende der Nacht. Mit ihr stehen wir auf und starten in einen neuen Tag. Manche aber gehen jetzt erst schlafen. Weil sie wach sein und arbeiten mussten in der Nacht. Damit wir schlafen können. Und so will ich an diesem heutigen Morgen an alle denken, für die die Nacht jetzt gerade beginnt mitten am Tag. An alle, die unseren Schlaf bewacht haben. Die vielen hellen Fenster nachts sind unbedingt der Rede wert. Denn hinter ihnen sind Menschen, die bei künstlichem Licht arbeiten und leben als wäre es Tag: Eltern, die aufstehen für ihre Kinder. Menschen, die in Restaurants und Küchen, in Bussen, Bahnen und Taxis, in Krankenhäusern und Büros, an den Rezeptionen und Fließbändern, an den Besen und Putzeimern, in den Druckereien, an den Backöfen und auf Großmärkten arbeiten. 

Menschen, die wachen. An Betten und Telefonen, auf den Polizei- und Feuerwehrstationen, in den Pflegeheimen. Menschen, die nicht schlafen können. Die sich nicht zurecht finden in der Nacht. Die lichtscheu sind und im Schatten leben, in ungeschützter Dunkelheit und Kälte, unter einem flüchtigen Dach. Menschen, die vor Schmerz und Kummer nicht schlafen können. 

Alles ist unter uns Menschen verteilt: Arbeit und Ruhe, Wachen und Schlafen. Sogar Nacht und Tag. Gott segne die Wachen und die, die jetzt schlafen.