11.09
2024
06:50
Uhr

Zion

Ein Beitrag von Olaf Trenn

Als Kind hatte ich es zu meinem Freund nicht weit.
Die drei Treppen runter und durch die Haustür,
dann über den schmalen Gehweg – oder, wenn niemand meckerte,
direkt über den Rasen zum Mietshaus gleich gegenüber.
Dann bei ihm klingeln, das Surren der Haustür, 
und im ersten Stock öffnet sich die Wohnungstür.
Ich rufe: „Kommst du runter?“, und er antwortet: „Ja, ich komme!“
Vor uns liegt ein langer Nachmittag mit all seinen Abenteuern 
in der Neubausiedlung, im Stadtpark, auf der verbotenen Baustelle 
oder in den Kleingärten. Und wenn wir Lust auf die Clique hatten, 
liefen wir noch von Haustür zu Haustür und holten die anderen ab, 
bis die Bande komplett war. 
‚Abholen‘ und ‚runterkommen‘ – Zauberworte meiner Kindheit.

Einander abholen und gemeinsam runterkommen. 
Wäre das was für uns heute? Lange Nachmittage wie damals stehen uns dafür wohl nicht zur Verfügung. Vielleicht am Wochenende. Und viele kleine Momente zwischendurch, in denen wir uns nicht überholen müssen oder links liegen lassen.
Gelegenheiten, zu denen wir in Ruhe in die Gedanken des Gegenübers einsteigen,
den Nachbarn ‚abholen‘ bei dem, was ihm wichtig ist, was ihn nervt, 
wovor er Angst hat, der Kollegin zuhören und sie fragen, 
worüber sie gerade nachdenkt.

Und dann zusammen ‚runterkommen‘. Im wahrsten Sinne: 
Sich gemeinsam erden – auf der Wiese vor dem Mietshaus,
auf der Bank im Park, in der Kantine bei einem Latte Macchiato.

Jesus hat Menschen genauso abgeholt.
Im Vorübergehen hat er sie eingeladen, eine Weile mit ihm zu gehen, 
er hat sie von der Arbeit abgeholt und einmal sogar von einem Baum heruntergerufen, 
damit sie ausscheren aus eingefahrenen Sichtweisen und sich erden.

Als frommer Jude knüpfte Jesus damit an eine alte Vision, einen uralten Traum an. 
Der geht so: Am Ende der Zeit holen die Menschen aller Völker einander ab, 
gehen von Tür zu Tür, klopfen an, kommen runter und sind gemeinsam zu Gott unterwegs.

Kein Volk fühlt sich dann noch einem anderen überlegen oder interessiert sich nicht dafür. Im Gegenteil: Nur im Miteinander aller Nationen macht es Sinn, zu Gott unterwegs zu sein. Einander abholen und runterkommen. Kommen Sie mit?!